Elaine Kalman-Naves

Elaine Kalman-Naves: Erklärung im Verfahren gegen Oskar Gröning, 06. Mai 2015

Ich bin überwältigt, hier in diesem Gerichtssaal zu sein, in diesem Moment der historischen Abrechnung. Ich bin hier, um die Erinnerung an Dutzende meiner Familienmitglieder zu ehren, die in Auschwitz umgekommen sind. Ich habe nie gedacht, dass ich eines Tages nach Deutschland reisen würde. Seit meiner Kindheit ist mir der Klang deutscher Ortsnamen vertraut. Gelsenkirchen, Sömmerda, Glachau, Buchenwald, Flossenbürg, Bergen-Belsen – diese Namen waren die Satzzeichen der Geschichten, die meine Eltern und ihre Freunde über den Krieg erzählt haben. Es waren Geschichten fast unvorstellbaren Schreckens.

Ich möchte dem Gericht und dem deutschen Volk dafür danken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, zu Ihnen über den Verlust der vielen Mitglieder meiner Familie zu sprechen. Diese vielen Verwandten habe ich nie kennengelernt, denn ich wurde in den Verlust hineingeboren. Anders als die meisten anderen Nebenkläger bin ich keine Überlebende, sondern Kind zweier Überlebender. Ich wurde nach dem Krieg in Ungarn geboren, als Tochter von Eltern, die sich nach dem Krieg kennengelernt haben und die beide vor dem Krieg mit anderen Personen verheiratet gewesen waren. Mein Vater Guszav oder Guszti Weinberger war mit einer Frau namens Margit, oder Mancika, Mandula, verheiratet gewesen, und zusammen hatten die beiden ein kleines Mädchen namens Eva Edith, oder Évike, Weinberger. Ich bin hier, um vor allem über Évike zu sprechen, die meine ältere Halbschwester gewesen wäre, wäre sie nicht gemeinsam mit ihrer Mutter am 3. Juni 1944 in Auschwitz ums Leben gekommen.

Wie – so könnten Sie fragen – kann ich authentisch über jemanden sprechen, die ich nicht gekannt habe? Das ist eine gute Frage. Irgendwie ist Évike gleichzeitig meine Schwester und nicht meine Schwester. Sie ist meine Schwester, weil sie die Tochter meines Vaters war, aber es ist natürlich ausgeschlossen, dass ich zu ihr jene Art von Beziehung habe, die man mit einem Geschwisterteil hat, mit dem man gemeinsam aufwächst. Und doch ist Évike eine einzigartige Präsenz in meinem Leben. Das ist sie seit dem Moment, in dem ich im November 1947 auf die Welt gekommen bin, und sie ist es bis zum heutigen Tag, da ich hier in Lüneburg aufgefordert bin, Ihnen von Évikes kurzem Leben zu erzählen.

Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal wirklich verstanden habe, wer Évike war, und sie war sechs Jahre alt, als sie ermordet wurde. Über die Jahre bin ich älter geworden, aber sie ist sechs Jahre alt geblieben. Deshalb ist sie in meiner heutigen Vorstellung, obwohl sie jetzt 77 wäre, ein Kind wie meine Enkelkinder, überhaupt nicht wie eine ältere Schwester. Ich empfinde eine große Verantwortung gegenüber Évike – die sie ein kleines Mädchen war, ein Mädchen wie so viele andere Kinder, die umgekommen sind. Aber auch ein kleines Mädchen wie niemand sonst in der Welt, ein einzigartiges Individuum, eine einzigartige Person.

Évike kam am 19. April 1938 in der Stadt Debrecen auf die Welt, als sehr ersehntes und sehr geliebtes einziges Kind von Guszti und Mancika. Sie waren wohlhabende, hart arbeitende, modern-orthodoxe, gebildete Juden, die im ungarischen Lebensalltag vollständig integriert waren. Guszti und seine zwei Brüder waren in dritter Generation Landwirte auf einem Gut in Nordostungarn, in einem Dorf namens Vaja. Mancika war eine kultivierte, gut ausgebildete junge Frau, die ein Pensionat in der Schweiz besucht hatte. Sie war meinem Vater eine liebende Frau und Évike eine hingebungsvolle Mutter.

Évikes Kindheit war eine Zeit voller dunkler und bedrohlicher Ereignisse in der weiteren Welt: antijüdische Gesetze in Ungarn, die sogenannte Kristallnacht in Deutschland und Österreich, und der Ausbruch des Krieges. Guszti war häufig weg von Zuhause, weil er in einem der besonderen Arbeitskommandos dienen musste, zu denen jüdische ungarische Männer eingezogen wurden, die MUNKASZOLGALAT. Aus diesem Grund zogen Évike und Mancika in das Gutshaus der Familie in Vaja, wo mein Vater selbst aufgewachsen war und wo auch meine Großeltern lebten, ebenso wie mein Onkel Pal, seine Frau Mary und deren kleine Tochter Marika. Der ernsten Lage zum Trotz blieb das Leben für sie alle relativ normal – bis etwa einen Monat vor Évikes sechstem Geburtstag: relativ normal bis zum 19. März 1944.

Die beiden kleinen Mädchen, Évike und Marika, waren Spielkameradinnen, und sie wurden von unseren Großeltern ebenso verhätschelt wie von den vielen anderen Mitgliedern des erweiterten Familienkreises, die das Anwesen meiner Großeltern regelmäßig besuchten. Es gibt viele Bilder, auf denen die Mädchen zusammen spielen, und viele Fotos, auf denen sie mit Verwandten abgebildet sind; die Freude steht in allen Gesichtern.

So weit wie meine Erinnerung zurückreicht, so weit reicht auch mein Wissen um Évike. Fotos von ihr säumten die Wände der Wohnung, in der ich in Budapest aufgewachsen bin – darunter viele die Wände des Zimmers, in dem ich geschlafen habe. Es gab Alben, Fotoalben, von der toten Familie meines Vaters und von der toten Familie meiner Mutter. Ich habe Erinnerungen an mich selbst ab einem sehr frühen Alter, wie ich ihre Alben durchblättere und nach den Namen der abgebildeten Menschen frage. Ich erinnere mich sogar, wie meine Mutter lächelt und sagt, ich hätte dieselben abstehenden Ohren und O-Beine wie Évike und dass wir das beides von unserem Vater geerbt hätten.

Als ich viele Jahre später damit begann, für mein Buch über die Familie meines Vaters zu recherchieren – Reise nach Vaja habe ich es genannt – erfuhr ich von der außergewöhnlichen Weise, in der Guszti und Mancika ihre kleine Tochter aufgezogen haben. Die Vettern und Cousinen meines Vaters erzählten in den Interviews, dass mein Vater nicht etwa eine Kinderfrau engagiert und es dann dieser Kinderfrau und Mancika überlassen hätte, Évike zu erziehen. Nein, mein Vater habe in ihre Betreuung und Erziehung voll einbezogen sein wollen. Im Gegensatz zu den stereotypischen Vätern der 1930er und 40er habe Guszti das Baby gebadet, habe sie gewiegt und mit ihr gespielt, in einer für die Zeit außergewöhnlichen Weise. Ich erkannte das Porträt meines Vaters, das seine Vettern und Cousinen für mich malten, denn er war mir und meiner Schwester dieselbe Art von Vater gewesen: sehr beschützerisch und sehr engagiert.

Mein Vater war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, der es liebte, über die Familie zu sprechen, aus der er stammte. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass er mir Geschichten von seiner Familie erzählt – und das waren ausnahmslos fröhliche Geschichten. Er erzählte von Feiern und Festtagen auf dem Familienanwesen, und besonders gern sprach er von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern beim Aufwachsen auf einem großen Landgut erlebt hatte. Auch wenn es sich dabei um positive Geschichten handelte, hat er sie dennoch mit den Worten eingeleitet: „Du tust mir leid, denn du weißt nicht, wie es ist, Großeltern zu haben. Du tust mir leid, denn deine Welt beginnt nur mit mir und mit deiner Mami.“ Ich habe überhaupt nicht verstanden, was er meint. Ich wollte nicht, dass er mit mir Mitleid empfindet. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Aber natürlich hatte er recht. Ich hatte keine Großeltern. Die Eltern meines Vaters und die Eltern meiner Mutter waren alle in Auschwitz ums Leben gekommen. Und die meisten meiner Tanten und Onkel waren ebenfalls ermordet worden.

Als ich heranwuchs, erfuhr ich mehr über Évike. Sie war ein herzensgutes, eher schüchternes und zurückhaltendes kleines Mädchen gewesen. Dabei war sie außerordentlich intelligent gewesen, und obwohl sie zu jung war, um schon die Schule besucht zu haben, hatte sie sich mit ihren Vorlesebüchern und der Tageszeitung selbst lesen und schreiben beigebracht. Wie ich später zu erklären versuchen werde, ist das für Évikes Geschichte wichtig. Denn weil sie lesen und schreiben gelernt hatte, sind wir in der Lage, aus ihren eigenen Worten ein Wenig über sie zu wissen.

In der Familie meines Vaters herrschte enger Zusammenhalt und große gegenseitige Liebe. Er selbst und seine zwei Brüder wurden von ihren Angehörigen auch unterstützt, als sie im Krieg den Sklavenarbeitsdienst MUNKASZOLGALAT leisten mussten. Von zu Hause erhielten sie Päckchen mit Essen und Kleidung, außerdem viele, viele Briefe. Im Jahr 1944 allein hat mein Vater von seiner Familie mehr als 150 Briefe und Postkarten erhalten. Mehr als 150 Briefe. Ich weiß das, weil mein Vater sie alle aufbewahrt hat: Über alle Torturen, die er während des Krieges erlitten hat, konnte er die Briefe in seinem Rucksack mit sich tragen. Diese Briefe stammten von seiner Mutter, von seinem Vater und von seiner Ehefrau und, ja, von seinem kleinen Mädchen Évike. Von dem kleinen Mädchen, das nie zur Schule gegangen war. Er bewahrte die Briefe auf, nicht nur während des Krieges, sondern auch danach.

Und viele Jahre später, als er merkte, dass ich sehr ernsthaft vorhatte, ein Buch über die Familie zu schreiben – das war 1982 –, erzählte mein Vater mir, dass er diese Briefe noch hatte. Ich fing an, sie mit ihm gemeinsam zu lesen. Sie waren alle auf Ungarisch, deswegen fing ich an, sie alle ins Englische zu übersetzen. Und während ich das machte, hatte ich eine Art Zusammenbruch. Die Arbeit mit den Briefen lähmte mich, fast buchstäblich. Monatelang war ich nicht in der Lage, zu funktionieren – wegen der Wirkung, die diese Briefe auf mich hatten. Weil diese Briefe von den Menschen stammten, von denen mein Vater mir erzählt hatte, seitdem ich sehr jung gewesen war. Und als ich die Briefe las, ging mir auf, wie recht er gehabt hatte, denn in der Tat war es sehr traurig, dass ich meine Großeltern nie kennengelernt hatte. Und hier waren sie auf einmal, in diesen Briefen. Ich konnte das Papier berühren, das auch meine Großmutter in der Hand gehabt hatte, und mein Großvater ebenfalls. Ich konnte sehen, welch gute Menschen sie gewesen waren, wie mutig, wie sehr voller Hoffnung und Entschlossenheit, einander nach der Katastrophe wieder zu finden. Immer wieder hatten sie meinem Vater ermutigende Botschaften geschickt, die ich nun mit meinen eigenen Augen lesen konnte. Und ich wusste, was sie nicht wussten, was sie nicht wissen konnten. Ich wusste, ich wusste, dass die Geschichte sie verschlingen würde. Ich wusste, dass sie alle auf dem Weg nach Auschwitz waren.

Évike war eine der Personen, mit denen mein Vater korrespondierte. Ihre Zettelchen und Briefe wurden mit denen der Erwachsenen geschickt. Sie schrieb auf verziertem Kinderbriefpapier, sehr ähnlich den geblümten Kinderzetteln, auf denen meine eigenen Töchter geschrieben haben, als sie klein waren. Miniaturbriefumschläge enthielten Évikes erste schriftliche Mitteilungen an ihren liebsten Menschen in der Welt. Sie wusste, wie ein Brief auszusehen hatte: Die Adresse meines Vaters bei seiner Arbeitsdienstkompanie schrieb sie auf ihre winzigen Umschläge in Blockbuchstaben, die alle ineinander übergingen: FÜR WEINBERGER GUSZTAV,MAROS HEVIZ,LANDKREIS MAROS TORDA. Und auf die Rückseite schrieb sie ihren Namen und ihre Adresse: WEINBERGER ÉVA EDIT VAJA. Innen sendete sie in der gleichen großen Blockschrift Nachrichten, die von ihrer Liebe und ihrem Vertrauen in ihren Papa künden. Offenkundig vergötterte sie ihn: Sie hatte sowohl ihren Teddybär als auch ihre Lieblingspuppe nach ihm benannt. In ihren Notizen schickt sie ihm Witze und beschreibt ihre jüngsten Erfolge und Aktivitäten. In einer erzählt sie, dass sie ihren ersten Zahn verloren habe. In einem anderen Brief teilt sie mit, dass sie gut auf ihre Mami aufpasse und ihrem Teddy einen Hut gehäkelt habe. Und alle Briefe unterschreibt sie mit: ICH KÜSSE DICH VIELMALS DEINE ÉVIKE

Es waren drei Generationen der Familie Weinberger, die am 25. April 1944 gezwungen wurden, ihr Zuhause in Richtung des Ghettos in Kisvarda zu verlassen. Évike hatte sechs Tage vorher, am 19. April, ihren sechsten Geburtstag gefeiert. An jenem 19. April schrieb ihre Mutter Mancika an Guszti, dass sie dabei seien, ihre Taschen zu packen und dass es schwierig sei einzuschätzen, was sie mitnehmen sollten. Sie war besonders bestürzt, ihren Ehering hergeben zu müssen, doch sie schrieb: „Du wirst mir eines Tages einen neuen kaufen, wenn, so Gott will, wir uns noch einmal wiedertreffen. Heute hat das liebste Kind Geburtstag, wir haben ihr unter Tränen gratuliert, und ich hoffe, dass sie all ihre zukünftigen Geburtstage unter glücklicheren Umständen verleben wird als den heutigen, bis sie 120 Jahre alt ist.“ Bis 120!, hat Évikes Mutter geschrieben. Das ist der traditionelle jüdische Glückwunsch, wenn jemand Geburtstag hat. Évike und Mancika würden beide 45 Tage später sterben, am 3. Juni 1944.

Die Familie schrieb meinem Vater ein weiteres Mal, einen langen Abschiedsbrief am 23. April. Évike fügte ihre eigenen Grüße hinzu: MEIN GELIEBTER APUKA WIE GEHT ES DIR MIR GEHT ES GOTTSEIDANK GUT, ICH DANKE DIR SEHR HERZLICH FÜR DIE GEBURTSTAGSWÜNSCHE. ES TUT MIR SEHR LEID DASS WIR NICHT ZUSAMMEN SEIN KÖNNEN DICH SEHR VIELE MALE KÜSSEND DEINE ÉVIKE

Wir wissen, welche ihrer Sachen sie ausgesucht hat, um sie ins Ghetto mitzunehmen. In demselben Abschiedsbrief schrieb ihre Mutter, dass sie alle dabei seien, ihre Pakete für die große Reise zu packen. „Meine arme kleine Évike hat auch ihren Guszti-Teddy und ein Buch eingepackt, damit ich beides für sie mitnehme.“

Eine letzte charakteristische Szene von Évike möchte ich in ein paar Minuten mit Ihnen teilen. Vorher möchte ich aber über die Familie sprechen, aus der ich stamme:

Évike war ein Kind, das nicht nur von seinen Eltern geliebt und geschätzt wurde, sondern auch von der gesamten erweiterten Familie und insbesondere von unseren Großeltern. Ich würde gern über meine Großeltern sprechen. Sie waren sehr religiöse Leute, mit einem tiefen und starken Glauben an Gott. Aber sie waren auch gebildete Leute, die sich wunderschön ausdrücken konnten. Meine Großmutter Ilona, nach der ich benannt bin, schrieb in ihrem Abschiedsbrief an meinen Vater: „Wenn du mich sehen könntest, würdest du sagen, dass ich eine wahre Heldin bin, und ich schulde das der Tatsache, dass ich, Gott sei Dank, vollkommen gesund bin, und auch meinem unerschütterlichen Glauben, an den ich mich klammere … Wir müssen uns alle wehrhafter machen, damit wir das alles ertragen können. Sorge dich nicht, ich werde alles für die zwei süßen Kinder tun – gemeint sind Évike und Marika –, denn schließlich sind sie immer das Licht meines Lebens gewesen, gemeinsam mit euch allen.“ Sie versprach, alles für ihre zwei kleinen zu Enkeltöchter tun, nicht ahnend, dass sie machtlos sein würde, irgendetwas zu tun, um sich selbst zu helfen, oder irgendjemand anderem.

Es gibt viele Photographien von meinen Großeltern mit ihren beiden kleinen Enkeltöchtern. Und auf all diesen Fotos sitzt Évike immer auf dem Schoß unseres Großvaters und Marika immer auf dem unserer Großmutter. Sie sehen alle sehr glücklich und zufrieden aus miteinander. Mein Großvater Kalman war das Familienoberhaupt, ein ernster, belesener Mann, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits von der aktiven landwirtschaftlichen Arbeit zur Ruhe gesetzt und die Leitung des Gutes an seine drei Söhne übertragen hatte. An jedem Tag, den sie wegen der Zwangsarbeit fort waren, schrieb Kalman seinen Söhnen lange, detailreiche Briefe oder Postkarten. Immer wieder hielt er sie dazu an, stark zu sein, und immer wieder versicherte er ihnen, dass es der Familie gut gehe. An diesem letzten Tag, in diesem Abschiedsbrief machte er sich, so glaube ich, keine Illusionen darüber, was ihm und den Seinen bevorstand, auch wenn er von Auschwitz noch nie gehört hatte. Dies sind seine Worte: „Lasse den Allmächtigen in seiner Barmherzigkeit über deine kostbare Frau und deine kostbare, begabte Évike wachen und dir helfen, so dass du dich an ihnen 120 Jahre lang erfreuen mögest, und dass du mit ihnen nur Glück finden mögest. Ich danke dir, mein teurer, guter Sohn, für die große Freude, die du uns geschenkt hast, und mögen die kostbare Évike und deine noch zu gebärenden Kinder dir auch großes Vergnügen schenken.“

Jedes Mal, wenn ich diese Worte lese und an die Qualen denke, die meine Familie damals erlitt, bricht es mir das Herz. Die Qual, die mein Großvater empfunden haben muss, als er diese Worte geschrieben hat. Es berührt mich aufs Tiefste, dass mein Großvater selbst für mich und für meine Schwester Judith, die hier letzte Woche ausgesagt hat, einen Segen hatte. Denn wir waren die „noch zu gebärenden Kinder“, die Kinder, die er niemals kennenlernen würde und die ihn niemals kennenlernen würden. Selbstverständlich konnte er sich nicht vorstellen, dass die Mutter dieser Kinder – nicht Évikes Mutter sein würde, meines Vaters erste Frau, Mancika.

Ich möchte ein paar Worte über Évikes Mutter sagen, Mancika Mandula Weinberger. Sie war ihren Eltern eine hingebungsvolle Tochter, meinem Vater eine liebende Ehefrau, und ihrem Kind Évike hat sie sich vollständig gewidmet. Sie war geduldig und bedacht. Sie sprach viele Sprachen, weil sie in der Schweiz ein Pensionat besucht und mit Mädchen vieler verschiedener Nationalitäten zusammengelebt hatte. 1944 war sie 35 Jahre alt, und sie war stark und gesund, und wäre sie nicht die Mutter einer Sechsjährigen gewesen, hätte sie eine Chance gehabt, zu überleben. Ich glaube nicht, dass sie ohne ihr Kind hätte leben wollen, aber krass gesagt hat das Kind, dessen Hand sie gehalten hat, sie in Auschwitz zum Tode verurteilt.

Der Viehwagen, der die Familie Weinberger aus der nordostungarischen Ghettostadt Kisvarda geholt hat, enthielt 34 Angehörige meiner Familie, von denen zwei den Krieg überlebt haben. Eine dieser zwei Überlebenden war eine Cousine meines Vaters, Susan Rochlitz Szoke. Cousine Susan war damals 19 Jahre alt und durch die Schrecken der Reise völlig traumatisiert. Und doch erinnerte sie sich später deutlich an Mancika und Évike im Waggon. Évike war gereizt und müde und durstig und konnte nicht verstehen, was los war. Sie fragte immer und immer wieder, wo sie hinführen. Und Mancika wiederholte immer und immer wieder, mit nicht zu erschöpfender Geduld: „Wir fahren an einen Ort, wo wir zusammen arbeiten werden, bis wir mit Apu zusammen sind. Vielleicht wartet Papa dort schon auf uns. Wir fahren wo hin, wo du Apu sehen wirst.“

Wir wissen alle, was als Nächstes passiert ist. Es war nicht mein Vater, der sie in Auschwitz an der Rampe abholte. Ich kann es nicht ertragen, das in Worte zu fassen, wovon ich weiß, dass es anschließend geschehen ist.

Ich bin gebeten worden, über die Auswirkungen des Holocaust auf mich zu sprechen, darüber, welchen Schaden er mir zugefügt hat. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, stellt mich vor ein Dilemma. Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Ihr Mitleid zu erregen. Ich sehe mich selbst nicht als beschädigte Person. Ich bin eine zufriedene Person, und ich habe ein erfülltes Leben. Es wäre ethisch falsch, mich in einem Gerichtssaal, in dem Sie von Überlebenden hören, als Opfer zu bezeichnen. Ich bin keine Überlebende des Holocaust; ich bin drei Jahre nach den Ereignissen, die wir beschreiben, zur Welt gekommen. Jeder Schmerz, den ich erlitten habe, kann mit ihrem Leid nicht verglichen werden.

Wenn ich aber zu mir selbst und zu Ihnen ehrlich bin, dann muss ich der Tatsache ins Gesicht sehen, dass die Auswirkungen des Holocaust auf mich grundlegend waren und sind. Schon die Umstände meiner Geburt fußen auf dem Tod anderer. Wären Évike und ihre Mutter am Leben gewesen, wäre ich nicht als Ich geboren worden. Wären meine Mutter und ihr erster Ehemann nicht getrennt worden und wäre ich als ihr Kind zur Welt gekommen, dann wäre ich auch nicht als Ich geboren worden. Und doch empfinde ich es als enormes Glück, geboren worden zu sein, und als Kind meiner Eltern geboren worden zu sein. Ich weiß auch, dass ich den beiden eine große Quelle der Freude war, einfach durch die Tatsache meiner Geburt. Als er erfahren hat, dass meine Mutter mit mir schwanger war, sagte mein Vater ihr, dass er dieselbe Art von Freude empfinde, die Gott am Tag der Schöpfung habe empfinden müssen. Und trotz ihrer Trauer und trotz des ungeheuerlichen Ausmaßes ihrer Verluste haben meine Eltern sich und ihren Kindern später in einem neuen Land ein stabiles neues Leben aufgebaut. Während sie dieses neue Leben gebaut haben, haben sie ihre Angehörigen aus ihren früheren Leben nie vergessen, ebenso wenig wie das, was diesen Angehörigen zugestoßen ist. Meinen Eltern war es wichtig, uns ein großes Vermächtnis an familiären Erinnerungen zu übermitteln.

In den prägenden Jahren meines Lebens bestanden die jüdischen Feiertage darin, an einem Vierertisch zu sitzen, mein Vater, meine Mutter, meine Schwester Judy und ich. Der Tisch war immer festlich gedeckt, und wir aßen etwas Gutes, und dabei schwelgten mein Vater und meine Mutter jedes Mal in Erinnerungen darüber, wie der jeweilige Feiertag vor dem Krieg gewesen war. Sie erzählten von all den vielen Leuten, die damals, zu Hause, um den großen Esstisch versammelt gewesen waren, und von den riesigen Mengen köstlichen und traditionellen Essens. Es war, als sei der Holocaust ein Besucher, der unser Essen mit uns teilte.

Bevor mein Vater mit 84 Jahren starb, war ich noch so gut wie nie auf einer Beerdigung gewesen. Eine Freundin meiner Eltern besuchte uns in der Trauerwoche, die wir Shiva nennen, um uns ihr Beileid auszusprechen. Sie hatte den Holocaust als Kind überlebt und ihre gesamte Familie verloren. Als sie in den Raum kam, in dem die Trauernden auf niedrigen Stühlen saßen, wie es der Brauch gebietet, alle Spiegel im Haus verhangen, wie es der Brauch gebietet, deutete diese Freundin meiner Eltern mit den Händen auf all die äußerlichen Zeichen der Trauer und sagte: „Wir wissen nicht, wie man das macht. Wir haben das noch nie gemacht.“ Sie musste nicht erklären, was sie meinte, denn wir verstanden sie vollkommen. Da sie so gut wie alle verloren hatten, alle auf einmal, hatte die Generation meiner Eltern – und mit ihnen wir, ihre Kinder – nie Gelegenheit gehabt, auf eine normale Weise zu trauern, wie man das eben tut, wenn die Generationen in ihrer natürlichen Abfolge dahinscheiden. Wir hatten nie Erfahrung in den normalen Ritualen des Trauerns, weil alle schon tot waren.

Wenn sich heutzutage meine Familie trifft, um die jüdischen Feiertage zu begehen, und im Besonderen Pesach, ein Fest, das an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten erinnert, sind wieder drei Generationen um eine sehr lange Tafel versammelt. Der Glaubenstext zum Pesach, die Haggadah, enthält einen Abschnitt, laut dem sich Juden in jeder Generation fühlen müssen, als seien sie selbst aus der Sklaverei befreit worden. In der Ära, in der bei uns mein Vater die Zeremonie am Auftaktabend des Pesach-Festes, am Seder, geleitet hat, hat er bei diesem Abschnitt immer innegehalten. Er bemerkte dann, dass es sich dabei nicht um irgendeine entfernte Sache handele, die vor Tausenden von Jahren geschehen sei. Er sagte, dass er und meine Mutter in unserem Zeitalter eine Sklaverei erfahren hatten, die unvergleichlich grausamer gewesen war als alles, was im Zeitalter der Pharaonen geschehen war. Und er hielt uns an, niemals zu vergessen, unsere Freiheit wie auch die Freiheit von anderen bis zu unserem letzten Atemzug zu verteidigen.

Ich glaube, dass es das ist, was ich dem Gericht sagen möchte, dass es das ist, weshalb ich hergekommen bin: dass Gerechtigkeit und Freiheit unsere höchsten gesellschaftlichen Werte sind. Sie müssen als ebenso kostbar betrachtet werden wie das Leben selbst.

Dass ich die Gelegenheit bekomme, an diesem Ort die Geschichte meiner Familie zu erzählen – die Gelegenheit, Ihnen von Évike, Mancika und meinen Großeltern zu berichten –, ist eine Bestätigung, dass ihre Leben, die auf so grausame Weise abgebrochen wurden, von Bedeutung waren. Sie waren nicht nur Zahlen in einer Statistik, sie waren aus Fleisch und Blut, sie waren Individuen mit Persönlichkeiten, Temperamenten, Schwächen und Stärken. Es gibt keine Möglichkeit, zurückzugehen, um die Katastrophe, die sie ereilt hat, ungeschehen zu machen. Es gibt keine Möglichkeit, zu reparieren, was ihnen widerfahren ist. Aber das ungeheure Ausmaß dessen, was ihnen widerfahren ist, in diesem Gerichtssaal und vor der Welt anzuerkennen, ist Quelle eines gewissen Trostes.