Zeugenaussage im Prozess gegen Reinhold Hanning: Irene Weiss, 18.02.2016

Meine Familie lebte in einer Kleinstadt in Ungarn. Mein Vater hatte ein großes Bauholzunternehmen. Wir waren eine Familie mit sechs Kindern im Alter von 7 bis 17 Jahren. Ich war ein dreizehnjähriges Schulmädchen.

Das Leben hatte sich für uns schon seit 1940 verändert, als Ungarn sich dem Dreimächtepakt mit Deutschland anschloss und die Nürnberger Gesetze einführte. Juden, die schon seit Generationen da lebten, mussten nur ihre Staatsbürgerschaft nachweisen. Das Unternehmen meines Vaters wurde von der Regierung enteignet und einem Nichtjuden übergeben. Wir mussten den gelben Stern tragen. Ich wurde der Schule verwiesen.

Im April 1944 wurde angekündigt, dass alle Juden sich am nächsten Tag am Rathaus zu versammeln hatten und nicht mehr als einen Koffer pro Person mitführen durften. Meine Mutter fing an, Proviant vorzubereiten, ohne zu wissen, wo wir denn hingingen. Sie nähte auch etwas Familienschmuck in Kleidungsstücke ein, mit dem Gedanken, dass sich der später gegen Essen für die Kinder tauschen ließe.

Am nächsten Morgen klopften der Bürgermeister, der Polizeichef und mein Schulrektor an die Tür. Sie verlangten unsere Wertsachen und mein Vater gab ihnen etwas Geld und Schmuck. Wir verließen unser Haus, mein Vater schloss das Tor hinter uns ab, damit unser Hund uns nicht hinterherlief.

Zusammen mit den ungefähr 100 anderen Juden unserer Stadt brachte man uns zu einer verlassenen Ziegelfabrik in der Stadt Munkacs, die einige Kilometer entfernt lag. Dort befanden sich bereits hunderte jüdischer Familien aus umliegenden Städten.

Dort blieben wir etwa einen Monat, wir schliefen auf dem überfüllten Fabrikboden. Unser Proviant von zu Hause war bald aufgebraucht und wir waren auf die tägliche Suppenration angewiesen. Eines Tages wurde verkündet, dass allen Mädchen unter 16 der Kopf geschoren werden müsse, sonst würden ihre Väter verprügelt. Meine Mutter gab mir einen Schal, mit dem ich meinen frisch geschorenen Kopf bedeckte.

Mitte Mai 1944 kam ein Frachtzug auf den Gleisen neben der Fabrik an. Über Lautsprecher wurde angesagt, dass wir alle einsteigen mussten. Keiner sagte uns, wohin es ging.

Von Wachmännern flankiert kämpfte meine Familie zusammen zu bleiben, und es gelang uns, mit etwa 80-100 weiteren Menschen in denselben Waggon einzusteigen. Der Sittsamkeit halber gingen die Männer auf eine Seite und die Frauen auf die andere. Ein Wachmann schmetterte die Tür zu und verriegelte sie von außen. Mit einem Mal war es stockfinster. Nur durch einen kleinen Schlitz im oberen Eck des Waggons drang ein wenig Luft und Licht zu uns. Stunden später fuhr der Zug los.

In der Mitte des Waggons stand ein Eimer für die Notdurft. Stunden vergingen, zwei Nächte und ein Tag. Der Eimer wurde voll. Mein Vater spähte durch den Schlitz und bestätigte unsere schlimmsten Befürchtungen: der Zug fuhr nach Polen. Wir hatten Gerüchte über Massenerschießungen jüdischer Familien in den Wäldern des von den Nazis besetzten Polen gehört. Von Auschwitz hatten wir noch nie gehört.

Endlich hielt der Zug am Morgen des dritten Tages an. „Wir sind in einer Art Lager“, sagte mein Vater. „Es gibt Baracken und uniformierte Gefangene. Es muss ein Arbeitslager sein.“ Wir waren erleichtert. Die Gerüchte hatten nicht gestimmt: Wir würden nicht in einem polnischen Wald erschossen.

Als die Zugtüren aufgingen, hörten wir Gebrüll: „Raus! Raus! Schnell! Lasst alle eure Sachen drin!“ Als meine Mutter das hörte, holte sie noch mehr Kleidung heraus und sagte uns, wir sollten uns noch ein paar Schichten überziehen. Ich hatte ja bereits einen Schal auf dem Kopf und zog mir noch einen viel zu großen Wintermantel an.

Hunderte Menschen kamen aus dem Zug geströmt. Gefangene in gestreiften Uniformen sprangen in die Waggons und begannen, die Koffer und Habseligkeiten auf den Bahnsteig zu hieven und dann in Laster zu verladen.

Auf dem Bahnsteig stand meine Familie aneinander geklammert, versuchte, in dem drängelnden, lärmenden Wirrwarr zusammenzubleiben. Bewaffnete SS-Wachmänner beförderten die riesige Menge voran, den Bahnsteig entlang.

Ein SS-Wachmann schrie: „Männer auf eine Seite, Frauen und Kinder auf die andere!“ Augenblicklich verschwanden mein Vater und mein 16-jähriger Bruder in eine Marschkolonne von Männern auf der einen Seite. Ich sah sie nie wieder.

Meine Mutter, meine ältere Schwester Serena, 17, meine kleine Schwester Edith, 12, meine zwei kleineren Brüder und ich schlossen uns der Kolonne der Frauen und Kinder an. In der Entfernung wallte Rauch aus einem Schornstein auf. Die Reihe bewegte sich langsam voran. Als wir vorne ankamen, versperrten zehn oder mehr SS-Wachmänner uns den Weg. Einer hielt einen kleinen Stock.

Der SS-Mann mit dem Stock bedeutete meiner älteren Schwester, Serena, sie solle auf eine Seite gehen, und sie ging eine Straße in diese Richtung entlang und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Der Wachmann hieß meiner Mutter und meinen zwei kleinen Brüdern, auf die andere Seite zu gehen, und sie verschwanden ebenso. Nur meine jüngere Schwester Edith und ich blieben übrig. Der Stock ging zwischen uns beiden nieder.

Edith wurde in die Richtung geschickt, in die meine Mutter gegangen war. Der SS-Wachmann sah mich an und zögerte einen Augenblick. Obwohl ich erst 13 war, wirkte ich mit meinem Kopftuch und Mantel wohl älter. Er wies mich in die Richtung, in die Serena und die anderen jungen Erwachsenen gingen und wandte dann seine Aufmerksamkeit den Frauen und Kindern zu, die hinter mir in der Schlange standen.

 Irene (zweite Frau von Links mit einem Kopftuch) sucht während der Selektion auf der Rampe nach ihrer Schwester.

Irene (zweite Frau von Links mit einem Kopftuch) sieht nach der Selektion auf der Rampe hinter ihrer kleinen Schwester her, von der sie bei der Selektion getrennt wurde. Sie ist in Sorge ob die Schwester in der für den Tod selektierten Menschenmasse den Anschluss an die Mutter schafft. (Zum Bild in hoher Auflösung)

Ich rührte mich nicht. Ich lehnte mich nach vorne, spähte in die Menge und versuchte auszumachen, ob Edith meine Mutter und kleinen Brüder eingeholt hatte. Frauen und Kinder gingen weiter in diese Richtung. In der sich schnell bewegenden Menge war es unmöglich zu sehen, was mit Edith passiert war. Während wir so getrennt wurden, nahmen wir ganz normal an, dass dies hier ein Arbeitslager war und wir unsere Familien bald wieder sehen würden. Ich war entsetzt bei dem Gedanken, dass Edith unsere Mutter vielleicht nicht fand. Niemand hatte Namen oder Personendaten aufgenommen. Sie wäre verloren, allein unter Fremden.

Unsere Familie hatte so sehr versucht, zusammenzubleiben, die älteren Kinder hatten sich um die jüngeren gekümmert. Jetzt waren wir völlig auseinander gerissen. Das Trauma dieser Trennung haftet heute noch an mir.

Die SS-Wachen forderten mich mit einer Geste auf, loszugehen, und ich rannte los und holte Serena ein. „Warum bist du nicht mit Mama mitgegangen?“, fragte sie.

Serena und ich wurden in ein Badehaus geschickt, wo neu angekommene Frauen geschoren, desinfiziert und mit Häftlingskleidung ausgestattet wurden. Dann wurden wir in eine Baracke mit etwa 200 anderen Frauen gebracht. Wir wussten immer noch nicht, wo wir waren. Wir fragten die anderen Gefangenen: „Wann sehen wir unsere Familien?“

Eine Frau deutete auf den Schornstein und sagte. „Seht ihr den Rauch? Da ist eure Familie.“

Ich dachte—„Warum würde jemand denn so etwas sagen?“

Serena und ich wurden einer Pritsche zugewiesen – im Grunde war es ein breites Holzregal. Sechs von uns teilten sich eine dünne Decke. Keine von uns fand Schlaf. Meine Schwester sagt, ich hätte tagelang geweint.

Jeden Morgen wurden wir vor Tagesanbruch zum „Zählappell“ geweckt. Wir mussten uns in der Morgenkälte aufstellen, fünf in einer Reihe, und standen stundenlang da, während wir gezählt wurden. Das war auch noch eine Gelegenheit für die SS-Wachleute, kränkelnde Frauen und Kinder herauszuziehen, die sie an der Auswahlrampe übersehen hatten. Das war für mich ein sehr gefährlicher Augenblick, weil ich erst 13 und klein war. Ich versuchte, mich auf einen Stein zu stellen, damit ich etwas größer wirkte und ich kniff mir die Wangen, damit ich etwas rosiger und gesünder aussah.

Aus reinem Glück entdeckten wir in einer Baracke in der Nähe die beiden Schwestern meiner Mutter, Roszi und Piri. Ihre liebevolle Hingabe beschützte und beschirmte uns an diesem schrecklichen Ort.

Nach einem Monat tätowierte man uns Nummern auf die Arme. Kurz darauf schickte man uns zur Arbeit in der Nähe des Krematoriums 4 in einer Lagerungs- und Abwicklungszone, die die Gefangenen „Kanada“ nannten. Dort sortierten wir Berge von Kleidern, Schuhen, Bettzeug, Brillen, Zahnbürsten, Kinderwägen, Koffern, Büchern, Töpfen und Pfannen und alle erdenklichen Haushaltsgegenstände aus. Man befahl uns, jegliche Wertgegenstände, die wir fanden, auszuhändigen.

Eines Tages, während ich Kleidung aussortierte, fand ich das weiße Kleid und den beigen Schal meiner Mutter.

Wir arbeiteten Tag und Nacht im Freien, brachten die Gegenstände aus der Witterung in die Baracken. Doch die Laster brachten immer mehr Sachen vom Gleis und den Krematorien und die Haufen wurden nie kleiner. Sie reichten bis zum Dach der Baracken. Wenn wir die Sachen erst einmal in die Baracken sortiert hatten, bündelten wir sie. Dann kamen männliche Häftlinge und luden sie auf Laster.

Es war offensichtlich, dass wir den SS-Wachmännern noch weniger wert waren als Sklaven, dass wir Untermenschen waren und dass sie in jedem beliebigen Augenblick, aus jedem noch so banalen Grund, oder auch völlig grundlos, über unser Leben und Tod walten konnten. Eines Tages war ich mit einer Gruppe Frauen im Badehaus, als ein SS-Wachmann hereinkam. Die nackten Frauen huschten beiseite und machten ihm Platz, als er plötzlich im Vorbeigehen auf uns einpeitschte. Gab es einen Grund? Er tat es, weil er es konnte. Ich erinnere mich auch daran, dass man uns von einem Teil des Lagers zu einem anderen marschieren ließ, als plötzlich ein Wachmann seinen Hund auf Tante Rozi hetzte. Nach einem schrecklichen Moment rief er den Hund zurück. Die anderen Wachen sahen zu und lachten.

Weil wir neben den Gaskammern und Krematorien wohnten und arbeiteten, weiß ich aus erster Hand, was unseren Familien widerfahren ist. Tag und Nacht sind Kolonnen von Frauen, Kindern und älteren Menschen an unserer Baracke vorbeigekommen und in dem Tor verschwunden, das zu den Gaskammern führte.

Viel später, 1982, als ich zum ersten Mal das Bild von dem Auschwitz-Album sah, auf dem ich bei der Selektion zu sehen bin, fand ich durch ein weiteres Bild auch heraus, was meiner Mutter und meinen zwei kleinen Brüdern passiert ist:

Ihre zwei Brüder (links) und ihre Mutter (dahinter kniend) warten im Birkenwäldchen in der nähe der Gaskammer.

Irenes zwei Brüder Reuven und Gershon (links) und ihre Mutter Leah (dahinter kniend) warten im Birkenwäldchen in der Nähe der Gaskammer auf ihre Ermordung. (Zum Bild in hoher Auflösung)

Meine Brüder Reuven, 9 Jahre alt, und Gershon, 7 Jahre alt, stehen unten links. Meine Mutter Leah, 44 Jahre alt, sitzt gleich hinter ihnen. Sie warten zusammen mit anderen bei ein paar Bäumen gleich vor den Krematorien 4 und 5. Meine kleine Schwester Edith ist nicht im Bild. Ich muss annehmen, dass sie die anderen nicht eingeholt hat und ganz alleine war. Bis heute verursacht mir diese Erkenntnis großen Schmerz. Kurz nachdem dieses Foto gemacht wurde, wurde jeder auf dem Bild in den Gaskammern umgebracht.

Wenn ich nachts draußen in Kanada arbeitete, hallten alle Geräusche so viel lauter wider. Erst hörte ich den Zug pfeifen, dann die Dampflok zischen, wie sie auf dem Bahnsteig einfuhr. Die Menschen, die aus den Zügen ausstiegen, sahen das Feuer der Öfen und der offenen Gruben, in denen die Leichen verbrannt wurden, und begannen zu schreien und zu beten. Ich hielt mir die Ohren zu, damit ich es nicht hören musste. Dann wurde es still. In der Entfernung hörte ich den nächsten ankommenden Zug pfeifen. Die Transporte kamen Tag und Nacht.

Im Januar 1945, als die Russen nahten, führte man uns auf einen Todesmarsch von Auschwitz nach Deutschland. Wer Rast machte oder vor Erschöpfung umkippte, wurde auf der Stelle erschossen. Bis wir in Ravensbrück und dann in Neustadt-Glewe ankamen, waren wir krank und abgezehrt. Meine Tante Piri erkrankte an Typhus und wurde von einem Laster fortgeschafft und getötet. Kurz darauf wurde auch Serena zur Tötung ausgewählt. Als mir bewusst wurde, dass wir getrennt werden sollten, sagte ich: „Ich bin ihre Schwester!“ Man sagte mir: „Dann komm du auch mit.“

Wir wurden mit anderen ausgewählten Frauen in ein Zimmer gebracht, wo wir auf den Laster warteten, der uns zu unserer Tötung bringen sollte. Der Laster kam nie, vielleicht wegen der nahenden russischen Front und dem sich daraus ergebenden Chaos. Bald darauf flohen die Wachen und die verbleibenden Überlebenden drifteten aus dem Lager.

In den Jahren seit Auschwitz habe ich nie über meinen Vater gesprochen. Ich sagte immer nur, dass er nicht überlebt hat. Ich konnte es nicht ertragen, darüber zu sprechen, wie er starb.

Er war ein liebevoller, sanftmütiger, gütiger Mensch. Als wir klein waren, brachte er uns auf unterhaltsame Weise das hebräische Alphabet bei, damit wir unsere Gebete lesen konnten. Unsere Wohnzimmerdecke hatte Holzbalken mit Astlöchern darin. Er befestigte eine Münze auf einem Besenstiel, und wenn wir unsere Lektion gut machten, hob er den Besenstiel zur Decke und fuhr damit über ein Astloch im Balken, sodass die Münze herabfiel, als käme sie aus dem Himmel. Wir Kinder waren davon verblüfft und verzückt; wir rannten mit den Münzen zum Händler auf der anderen Straßenseite und kauften uns etwas Süßes. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, umringten wir Kinder ihn und er schenkte uns allen seine Aufmerksamkeit und seine Liebe. Sein ganzes Leben drehte sich nur um seine Familie und seinen Glauben.

Das war mein Vater, 47 Jahre alt, der bei seiner Ankunft in Auschwitz zur Arbeit in einem Sonderkommando gezwungen wurde. Diese Arbeit bestand darin, Leichen aus den Gaskammern zu zerren. Dass er in diesem Sonderkommando war, erfuhren wir von einem jungen Mann aus unserer Stadt. Er steckte uns einen Zettel zu, über einen elektrischen Zaun hinweg, der uns vom Krematorium 4 trennte. Auf diesem Zettel stand, dass Vater kurze Zeit, nachdem er für diese Arbeit eingesetzt wurde, erschossen worden war.

Was aus meinem 16-jährigen Bruder geworden ist, haben wir nie erfahren… Von meiner achtköpfigen Kernfamilie haben nur ich und Serena überlebt. Meine dreizehn Cousins und Kusinen sind alle mit ihren Müttern umgekommen. Wann immer ich unmittelbar nach dem Krieg Kinder sah, blieb ich stehen und starrte sie an. Ich hatte fast eineinhalb Jahre lang keine Kinder mehr gesehen. In der Welt, aus der ich kam, wurden Kinder zum Tode verurteilt.

Zum Tode verurteilt, doch was war ihr Vergehen? Selbst als Dreizehnjährige wusste ich, dass uns keine Schuld traf, dass nicht wir die Verbrecher waren. Die SS-Wachmänner, die Familien zerrissen, die Mütter und Kinder in die Gaskammern trieben, die unschuldige Zivilisten versklavten und aushungerten, die diese Todesfabrik am Laufen hielten, die sind des Massenmords schuldig.

Der Angeklagte argumentiert vielleicht, dass er nur ein kleines Rädchen in der Maschine gewesen sei. Aber wenn er heute hier in seiner SS-Uniform dasäße, würde ich vor Furcht zittern, und all die Schrecken, die ich als Dreizehnjährige erlitten habe, kämen wieder in mir hoch. Für diese Dreizehnjährige verkörperte jegliche Person in dieser Uniform Terror und die Abgründe, in die ein menschliches Wesen sinken kann, egal welche Funktion sie erfüllten. Und heute, im Alter von 85 Jahren, empfinde ich das immer noch genauso.