Plädoyer Cornelius Nestler vom 27. Mai 2016

Sehr geehrte Richterinnen und Richter, sehr geehrte Staatsanwälte, Herren Verteidiger und Kollegen der Vertretung der Nebenkläger

In diesem Strafverfahren geht es um die individuelle Schuld des Angeklagten – eingangs dieser Hauptverhandlung hat die Vorsitzende Richterin zu Recht diesen programmatischen Satz aufgestellt. Und doch war allen Beteiligten und auch den Zuhörern klar, dass dieses Strafverfahren weitergehende und sehr grundsätzliche Fragen aufwirft.

Wenn es dafür irgendeines weiteren Beleges bedarf, dann ist es die Einleitung, mit der Herr Oberstaatsanwalt Brendel sein Plädoyer letzte Woche begann, nämlich der Frage, warum denn dieses Verfahren „jetzt noch“ sein müsse. Seine Antwort war, in Stichworten: Legalitätsprinzip, Mord verjährt nicht, wir sind es den Opfern schuldig.

Zu den Opfern hat mein Kollege Walther gesprochen.

Zur Nicht-Verjährung bei Mord nur eine kurze Anmerkung: Es war nicht immer so, dass Mord nicht verjährte. Sondern die aus 1979 stammende Regelung, mit der die Verjährung für Mord endgültig aufgehoben wurde, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Debatten zur Verjährung von NS-Verbrechen. Man könnte daher formulieren: Mord verjährt nicht, weil jedenfalls eine Mordbeteiligung, wie sie dem Angeklagten vorgeworfen wird, nicht verjähren DARF.

Das Legalitätsprinzip gibt in der Tat die zwingende Antwort auf die Frage: Warum jetzt noch ? Das ist der fundamentale Grundsatz unserer Strafprozessordnung: Wenn es einen Tatverdacht gibt, muß die Staatsanwaltschaft ermitteln und bei hinreichendem Tatverdacht Anklage erheben.

Aber wenn das so ist, dann steht unübersehbar eine zweite Frage im Raum: Warum erst jetzt ? Wegen der Beteiligung am Mord an mehr als 100.000 Menschen in Auschwitz musste die Staatsanwaltschaft doch schon früher und nicht erst im Jahr 2014, also 70 Jahre nach der Tat ermitteln. Warum also ist es erst jetzt zu diesem Strafverfahren gekommen ?

Die Antwort darauf, warum die Justiz über Jahrzehnte hin ihrer Verpflichtung zur Strafverfolgung des Angeklagten und in anderen vergleichbaren Fällen nicht nachgekommen ist, diese Antwort ist umfangreich und vielschichtig. Ich habe im Strafverfahren gegen Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg im vergangenen Sommer eine Antwort versucht, die vor allem das Versagen der Frankfurter Staatsanwaltschaft in den Blick nimmt, jener Staatsanwaltschaft, die auf Grund der Initiative von Fritz Bauer eine Sonderzuständigkeit für den Massenmord in Auschwitz hatte. Ich will und kann das hier heute nicht wiederholen. Und – wer es nachlesen will – kann dies einfach tun: Mein Schlussplädoyer von 2015 ist ebenso wie die Plädoyers, die wir hier heute halten, auf der Website www.nebenklage-Auschwitz.de nachlesbar.

Ich will eine weitere Antwort geben. Und sie beginnt mit der Beschreibung, was die sogenannte „Wende“ eingeleitet hat, wegen der wir heute hier in der Strafsache gegen Hanning in Detmold versammelt sind. Das haben wir im Ausgangspunkt einem Mann zu verdanken. Er sitzt neben mir, er heißt Thomas Walther.

Ich sage das nicht, um Thomas Walther zu loben. Obwohl er viel Lob verdient, vor allem aber für seinen unermüdlichen – und ich benutze das Wort nicht metaphorisch, sondern in der Tat: unermüdlichen – Einsatz für die Überlebenden der Shoa und ihre Beteiligung an den letzten Strafverfahren gegen NS-Täter.

Sondern ich schildere diesen Ausgangspunkt, weil mit dieser Geschichte besser als mit jeder anderen Erklärung das Versagen derjenigen Behörde deutlich wird, die 1958 doch gerade zu dem Zweck gegründet wurde, um NS-Verbrechen systematisch zu ermitteln. Das Versagen jener Behörde, die ihre Gründung gerade der Einsicht verdankt, dass der im Strafrecht normale Modus: „Es gibt einen Anfangsverdacht, die zuständige Staatsanwaltschaft ermittelt“ bei den NS-Verbrechen zu einem vollständigen Niederliegen der Strafverfolgung geführt hatte. Und so setzt erst mit der Gründung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, also ab dem Jahr 1958, die systematische Ermittlung und Verfolgung von NS-Verbrechen sein.

Als Thomas Walther 2006 in Ludwigsburg seinen Dienst antrat, schien das alles graue Vergangenheit, allenfalls noch ein Thema für ein paar Rechtshistoriker zu sein. Ihm wurde sogleich mitgeteilt: „Herr Walther, die Zeiten in denen von hier aus noch irgendwelche Anklagen veranlasst worden sind, die sind vorbei. Erwarten Sie nicht, dass so etwas noch möglich wird. Wir haben in der heutigen Zeit keine Möglichkeit mehr, den Nachweis der unmittelbaren Beteiligung an NS-Verbrechen zu erbringen.“

Ein paar Monate später, Walther ist abends noch in seinem Büro, kommt ein Fax aus Washington rein. Mit der Mitteilung, eine Elfriede Rinkel, der die Abschiebung aus den USA gedroht hatte, sei vorzeitig nach Deutschland ausgereist. Elfriede Rinkel war eine Hundeführerin im KZ Ravensbrück, ein Teil der Wachmannschaft.

Ein Kontakt von Walther zu Eli Rosenbaum, dem Leiter jener Behörde beim amerikanischen Justizministerium, die für die Ermittlung von Personen, die an NS-Verbrechen beteiligt waren, zuständig ist, entsteht. Rosenbaum kann und will nicht einsehen, dass in der Bundesrepublik die Angehörigen der SS, die in den Vernichtungslagern tätig waren, keinen strafrechtlichen Vorwurf zu befürchten haben. Und Walther kann dem drängenden Unverständnis von Eli Rosenbaum nichts entgegen setzen als die unbefriedigende Antwort, die der Haltung in Ludwigsburg entsprach: „Das ist nach deutschen Recht eben so.“ In Unruhe versetzt sucht Walther im Internet auf der Website des US-Justizministeriums nach Informationen zu Elfriede Rinkel, und beim Surfen stößt er ganz zufällig auf die Ausbürgerungsentscheidung eines Gerichts aus Ohio zu John Demjanjuk. Diese enthält 80 Seiten Begründung, warum Demjanjuk als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt war.

Was Walther im Jahr 2006 noch gar nicht bekannt ist – das Verfahren gegen Demjanjuk ist nur eines aus einer ganzen Anzahl von Verfahren gegen NS-Täter, zu denen das Justice Department schon im Jahr 2003 dem Behördenleiter aus Ludwigsburg bei seinem Antrittsbesuch bei Eli Rosenbaum die Akten vorgelegt hatte.

Diese zufällig beim Googeln gefundene Ausbürgerungsentscheidung zu Demjanjuk – das war der Startschuss für die Neuaufnahme von Ermittlungen wegen NS-Verbrechen, das war der Startschuss für eine Entwicklung, die letztlich uns alle hier in diesem Gerichtssaal zusammengebracht hat. Und das institutionelle Versagen jener Behörde, in der ja die gebündelte tatsächliche wie rechtliche Kompetenz dem Elend der systematischen NICHT-Verfolgung von NS-Verbrechen im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik ein Ende setzen sollte, zeigt auch der nächsten Schritt:

Die Unterlagen aus den USA belegen eindeutig, dass Demjanjuk ein Wachmann in Sobibor war. Aber Walther hat ein Problem: Es gibt keinen tragfähigen Nachweis einer unmittelbaren Beteiligung von Demjanjuk an einer konkreten Tötungshandlung. Walther braucht also eine Theorie, damit er allein deswegen, weil Demjanjuk als Wachmann im Vernichtungslager tätig war, wegen Beihilfe zum Mord ermitteln kann. Und Walther entwickelt nun die aus seiner Sicht ganz neue und innovative Theorie von der Mordfabrik als Tat.

Wer die Anklage in diesem Verfahren gelesen und ihrer auszugsweisen Wiederholung im Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft zugehört hat, weiß, dass es nun wirklich keiner neuen Theorie bedurfte. Es hätte schon ausgereicht, einfach mal einen Blick in das Urteil des Landgerichts Hagen von 1965 zu Sobibor zu werfen. Denn die Tatgerichte wie auch der Bundesgerichtshof hatten ständiger Rechtsprechung genau das entschieden, was Walther meinte, neu erfinden zu müssen.

            Zitate

Es gibt weltweit bekannte Nazijäger wie Simon Wiesenthal und nun Ephraim Zuroff. Es gibt auch Behörden, die systematisch und mit ungeheurem Aufwand und bester Organisation NS-Verbrecher aufspüren und rechtlich gegen sie vorgehen, wie etwa das von Eli Rosenbaum geleitete Office of Special Investigation. Und es gab eine Zeit, in der man auch in Ludwigsburg „auf die Jagd ging“. Aber was wir in der Periode von 2002 bis zur Hauptverhandlung gegen Demjanjuk in München im Jahr 2009 rückblickend in Ludwigsburg sehen, das ist institutionalisiertes Unwissen, das ist juristischer Blindflug, der in institutionalisierte Untätigkeit mündet.

Für diese institutionalisierte Blindheit ist die Tatsache, dass ausgerechnet der Fall Demjanjuk die Wende eingeleitet und den Startschuss für den Neuanfang der Verfolgung von NS-Verbrechen gegeben hat, der beste Beleg. Denn in diesem Verfahren gab es Probleme über Probleme. Das fängt schon damit an, dass der Tatnachweis, dass Demjanjuk Wachmann in Sobibor war, nicht im Ergebnis, aber im Verfahren außerordentlich kompliziert war. So ist der Fall Demjanjuk eingebunden in vielfache Verfahren in den USA und zwischenzeitlich auch vor Gerichten Israels und dann wieder in den USA zu dieser einen Frage: War Demjanjuk überhaupt Wachmann bei der SS, und wenn ja, an welchem Ort. Die Zuständigkeit der deutschen Justiz in diesem Fall zu begründen, war ebenfalls nicht einfach – denn der Tatort war das Ausland, der Täter und seine Opfer waren Ausländer, und so behalf man sich zunächst mit einer Konstruktion, die aus dem ukrainischen Hilfswilligen im Vernichtungslager der SS einen deutschen Amtsträger machte. Und Demjanjuk lebte in den USA – dort musste erst mal ein Abschiebungsverfahren durchgeführt werden, bevor er überhaupt vor ein deutsches Gericht gestellt werden konnte. Hinzu kam – es gab ja schon 7 Jahre Haft in Israel, mit der Fehlverurteilung als Ivan der Schreckliche von Treblinka, den Jahren in der Todeszelle und all den sich daraus ergebenden Problemen – wenn schon kein Verbot der Doppelbestrafung, dann zumindest komplizierte Anrechnungsfragen.

Es wäre wirklich einfacher gegangen. So lebte etwa seit dem Kriegsende ein Mann in einem Vorort von Bonn und arbeitete als Angestellter im Bundesbauministerium, der bei mehreren Zeugenvernehmungen in den 60ger Jahren geschildert hatte, dass er von den Anfängen bis zum Ende der Ermordung der 500.000 Juden im Vernichtungslager Belzec als Wachmann tätig war.

Der Tatnachweis: Dieser Samuel Kunz hatte seine Tatbeteiligung in Belzec in den Zeugenvernehmungen ja selbst zugegeben, und es gibt neben anderen Dokumenten sogar ein Foto, das ihn dort mit Mandoline im Arm zeigt. Die Zuständigkeit – kein Problem, Samuel Kunz war Deutscher und er lebte in Deutschland. Gemessen am Fall Demjanjuk gabt es kein einziges strafrechtliches Problem, diesen Mann anzuklagen, wie dann auch die Anklage aus dem Jahr 2010 zeigt, aber dieser Samuel Kunz war eben nicht auf dem Bildschirm in Ludwigsburg.

Ich werfe einen letzten Blick auf die Rolle von Ludwigsburg. Es ist sicherlich ein Konstruktionsfehler gewesen, dass Ludwigsburg nur Vorermittlungen machen durfte, aber selbst keine Anklagekompetenz hatte. Ludwigsburg ist damit immer nur so erfolgreich, wie es die Staatsanwaltschaften zulassen, die letztlich für die Ermittlungen und die Anklage zuständig sind. Aber schauen wir uns doch den Vorgang aus dem Jahr 2005 an als Oskar Gröning dem Spiegel ein Interview gab, in dem er auch seine Tätigkeit auf der Rampe in Auschwitz schilderte. In Ludwigsburg wird die Presse gesichtet und so gibt man dieses Interview der Frankfurter Staatsanwaltschaft mit der begründungslosen Nachfrage zur Kenntnis, ob man dort im Hinblick auf dieses Interview etwas veranlassen wolle. Zurück kommt die ablehnende Entscheidung der Frankfurter Staatsanwaltschaft mit einer ganz ungeheuerlichen Begründung, angelehnt an jene Entscheidung aus 1982, mit der diese Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die Wachmänner, die an der Rampe in Auschwitz tätig gewesen waren, eingestellt hatte. Diese Begründung lautet im Kern so: Zwei Gruppen von Menschen kamen auf der Rampe an. Die einen, die gesunden und kräftigen, wurden zur Arbeit selektiert und daher nicht gleich ermordet, also keine Beihilfe zum Mord an diesen Menschen. Die andere Gruppe waren die Alten und Schwachen und die Mütter mit Kindern, und die wollten und konnten doch gar nicht fliehen. Also ebenfalls keine Beihilfe.

Ja, es ist richtig- kaum einer der Menschen, die in Auschwitz ankamen, wollte bei seiner Ankunft fliehen. Nun, das war gerade das Ziel der Methode, die wir juristisch als Heimtücke bezeichnen, dass den Menschen bei der Ankunft in Auschwitz verborgen bleiben sollte, was sie erwartete. Aber die auf der Rampe eingesetzten Häftlinge, die Arbeitssklaven in den gestreiften Pyjamas, die wussten genau, worum es ging. Und jetzt stelle man sich vor, es hätte nicht den Kordon von Wachmännern und anderen SS-Angehörigen gegeben, der den ganzen Ablauf abgesichert hat. Es hatte eben schon seinen Grund, warum gerade auch an der Rampe die Wachkompanien eingesetzt wurden.

Ich habe diese Verfügung der Frankfurter Staatsanwaltschaft im letzten Jahr einer Reihe von Juristen zum Lesen gegeben. Einhellige Reaktion: „Man kann es nicht glauben, wenn man es nicht liest, Entsetzen.“ Diese Verfügung von 2005 wurde selbstverständlich auch Ludwigsburg mitgeteilt. Reaktion dort: Jedenfalls nach Aktenlage: Keine.

Ja, die Entscheidung, ob Ermittlungen gegen Gröning aufgenommen werden sollten, lag bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft. Aber muß man nicht gerade als jene Behörde, die für die Verfolgung von NS-Verbrechen zuständig ist, angesichts dieser Begründung reagieren, zumindest mal nachfragen: Das kann doch nicht ernsthaft so vertreten werden ? Was ist das für eine NS-Verfolgungsbehörde, die hier den Mund hält ?

Wie gesagt, mit Demjanjuk kam die Wende, auch in Ludwigsburg, und gerade die Arbeit ihres Mitarbeiters Thilo Kurz, der detailliert die Rechtsprechung der 60ger und 70ger Jahre zum Tatbegriff bei NS-Verbrechen in den Vernichtungslagern aufgearbeitet hat und dies dann auch in der ZIS veröffentlicht hat, diese Arbeit war für die weitere Entwicklung sehr hilfreich und hat letztlich auch zu diesem Strafverfahren geführt.

Herr Walther und ich haben in den letzten Monaten die Anklage der Dortmunder Staatsanwaltschaft gegen Hanning immer wieder gelobt. Weil diese Anklage eben nicht nur die Ermordung der Menschen in den Blick genommen hat, die unmittelbar nach der Ankunft auf der Rampe getötet wurden, sondern das – wie es das Urteil gegen Gröning auf den Punkt gebracht hat – das „ingesamt auf die Tötung von Menschen ausgerichtete System des Konzentrationslagers Auschwitz.“

Unser Lob gilt nicht der Erkenntnis, dass auch dieser Sachverhalt anzuklagen ist.

Wer sich nur ein wenig genauer auf die Umständen schaut, unter denen die Häftlinge in Auschwitz durch systematisches Verhungern und gezielte Tötungen, sei es nach Selektionen, sei es an der schwarzen Wand, ermordet wurden, für den liegt es auf der Hand, dass die Wachmänner, die diesen fortwährenden systematisch geplanten und ausgeführten Mordprozeß durch Bewachung gesichert haben, sich wegen Beteiligung am Mord strafbar gemacht haben. Und – nur am Rande – diesen Teil seiner Beteiligung am Massenmord in Auschwitz hat ja selbst der Angeklagte eingeräumt.

Angeklagt hat die Staatsanwaltschaft Dortmund mithin das Selbstverständliche. Unser Lob gebührt daher der Entscheidung, endlich das Selbstverständliche zu tun. Und der Rückblick auf den Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit den NS-Verbrechen in den vergangen Jahrzehnten zeigt ja, dass das Selbstverständliche Tun hier schon sehr sehr viel ist.

Die Anklage und insbesondere das Plädoyer von Herrn Brendel werfen aber ein Problem auf, dass mit der Reaktion der Staatsanwaltschaft auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Hördler überdeutlich wird. So hat Herr Brendel in seinem Plädoyer sinngemäß gesagt, das Gutachten von Hördler habe an der Auffassung der Staatsanwaltschaft, wie sie in der Anklage vertreten wird und wie sie Herr Brendel im Plädoyer wortwörtlich wiederholt hat, nichts geändert. Es geht um die Beteiligung der 3. Kompanie und damit des Angeklagten auch am Rampendienst.

Eine kleine Zwischenbemerkung, bevor ich das Folgende ausführe. Herr Brendel hat die schriftliche Fassung seines Plädoyers aus generellen Gründen nicht zur Verfügung gestellt. Und Ihre Sprechgeschwindigkeit, Herr Brendel, war so groß, dass ich nicht ausschließen will, dass ich etwas nicht richtig verstanden haben. Aber mit diesem kleinen Vorbehalt Folgendes:

Die Staatsanwaltschaft erfasst mit ihrer Anklage auch die im Rahmen der sog. Ungarnaktion unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordeten Menschen im angeklagten Tatzeitraum. Sie legt weiterhin das Rotationssystem zu Grunde (Kleine Postenkette, Große Postenkette, Bereitschaftsdienst mit Einsatz der Rampe, ab Mai 1943 dann auch eine „Einsatzkompanie“), und die Anklage untermauert das System beim Einsatz der Kompanien mit den Sturmbannbefehlen aus dem Jahr 1943. Nun hat Herr Hördler in der Hauptverhandlung ausdrücklich und auf Nachfragen betont, dass er keine eindeutigen Hinweise darauf sieht, dass die dritte Kompanie auch nach dem Bau der neuen Rampe, d.h. innerhalb des Lagers II Birkenau, bei der Abwicklung der Ermordung der dort angekommen Menschen eingesetzt war. Die Staatsanwaltschaft kommt weitergehend zu dem Ergebnis, dass ein Einsatz des Angeklagten an der Rampe für den gesamten Tatzeitraum nicht mit Sicherheit nachzuweisen sei.

Diese Wertung, dass ein Einsatz des Angeklagten auch an der alten Rampe nicht nachgewiesen sein soll, ist nicht nachvollziehbar.

Ich nehme exemplarisch einen Ausschnitt, den Herr Hördler an Hand von Dokumenten detailreich beschrieben hat. Ab Anfang August 1943 kommen die großen Transporte aus den Ghettos Bendzin und Sosnowitz in Auschwitz an. Im Standortbefehl vom 6. August 1943 heisst es: „Als Anerkennung für die in den letzten Tagen von allen SS-Angehörigen geleistete Arbeit anläßlich der Sonderaktion (womit diese Transporte gemeint sind) hat der Kommandant befohlen, dass am Sonnabend, 7.8. 13.00 bis einschließlich Sonntag, den 8.8. 43, jeglicher Dienstbetrieb ruht“ (Zitat Ende) und nur die notwendigsten Komandos auszuführen sind.

In der folgenden Woche kommt am 10. August 1943 ein Transport aus dem Ghetto in Sosnowitz mit ungefähr 3.000 Menschen an.

Der Sturmbannbefehl Nr. 119/43, auf den sich Herr Hördler weiterhin in seinem Gutachten bezieht, gibt für den 8. bis 15. August an: „Nachtbereitschaft übernimmt in Auschwitz die 1. Kompanie, in Birkenau die 2. Kompanie. (…)Einsatzkompanie vom 8. August bis 15. August ist die 3. Kompanie“ – das ist die Kompanie, in der Herr Hanning tätig war.

Nimmt man beide Dokumente zusammen, dann ist deutlich, dass bei der Abwicklung der Transporte in diesen Wochen die Kompanien, die daran beteiligt waren, im Großeinsatz waren. Das liegt auch auf der Hand:

Ein Zug – oder vielleicht auch zwei Züge – mit 3.000 Menschen setzt sich, selbst wenn alle Wagen mit Menschen vollgepfercht sind, aus mindestens 40 Wagen zusammen. Für den Kordon der Wachmänner um diese Züge herum braucht man eine große Zahl von Wachmännern. Nicht einmal eine ganze Kompanie wird dafür ausgereicht haben. Und die 3. Kompanie des Angeklagten Hanning wird speziell für diesen und andere Transporte in dieser Woche eingesetzt.

Vom Fehlen des Nachweises, dass der Angeklagte – exemplarisch – in der Woche vom 8.8. bis 15.8. der Rampe eingesetzt war, kann nur ausgehen, wer es für möglich hält, dass vom Einsatz der 3. Kompanie in dieser Woche (und zu allen den anderen Zeiten, zu denen die 3. Kompanie Einsatzkompanie war oder Nachtbereitschaft hatte) nun gerade der Angeklagte Hanning nicht erfasst gewesen sein. Für diese Annahme gibt es keinen Anlaß. Und die Einlassung des Angeklagten, er sei – anders als andere Angehörige der 3. Kompanie – niemals an der Rampe eingesetzt worden, stellt zunächst das Rotationssystem insgesamt in Frage, das aber durch die eingeführten Dokumente und Zeugenaussagen und insbes. auch das Gutachten von Herrn Hördler eindeutig belegt ist. Im Übrigen ist es offensichtlich, dass das Rotationssystem notwendig war, um alle Wachmänner für alle Tätigkeiten regelmäßig zu trainieren. Alle mussten alles können, um in Ausnahmesituationen einsatzfähig zu sein. Weiterhin wird mit dieser Einlassung behauptet, dass selbst in den geschilderten Zeiten des Großeinsatzes gerade auch der 3. Kompanie an der Rampe wesentliche Teile der Kompanie an anderen Orten im Routinebetrieb, für den nach dem Rotationssystem andere Kompanien zuständig waren, eingesetzt wurden. Das ist vollkommen fernliegend. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist einer Einlassung, für deren Richtigkeit es keinerlei Anhaltspunkte gibt, nicht zu folgen. Daher ist auch davon auszugehen, dass der Angeklagte vielfach beim Rampendienst mitgewirkt hat.

Zum Abschluss will ich auf den Strafantrag der Staatsanwaltschaft eingehen.

Wir haben zwei Orientierungspunkte aus vergleichbaren Verfahren. Das ist einmal die Verurteilung von Demjanjuk zu 5 Jahren Freiheitsstrafe. Die Strafmilderungsgesichtspunkte des aus dem Kriegsgefangenenlager rekrutierten ukrainischen Hilfswilligen, der sich nur durch Desertation und Flucht und nicht – wie Herr Hanning – durch eine einfache Meldung zur Front seinem Einsatz entziehen konnte (wenn er denn gewollt hätte), im Vergleich zu Herrn Hanning liegen auf der Hand. Dann gibt es die Verurteilung von Herrn Gröning zu 4 Jahren Freiheitsstrafe. Dessen Verhalten im Prozeß hat sich ausgezeichnet durch das in derartigen Strafverfahren ganz einzigartige – wenn auch bei Herrn Gröning nicht immer gelungene – Bemühen, sich durch umfassende Einlassung, was die Beantwortung von Fragen einschlossseiner Verantwortung zu stellen. Hiervon ist Herr Hanning bis auf den heutigen Tag, Herr Walther hat das ausgeführt, weit entfernt.

Aber es kommt ein weiteres hinzu. Dieses Verfahren hat begonnen mit der auch jedenfalls von mir unreflektierten Vorstellung, hier handele es sich um ein weiteres Verfahren gegen einen Wachmann, gegen eine SS-Angehörigen auf der untersten Ebene der Verantwortlichkeit für den Massenmord in Auschwitz.

Herr Hördler hat mir mit seinem Gutachten und seinen Ausführung zu der „Kohorte“ von Fronterfahrenen SS-Kämpfern, die dann in Auschwitz die Karriere zum Unterscharführer durchlaufen haben, die Augen geöffnet. Ich erinnere, wie die Vorsitzende Richterin die Rolle des Angeklagten nach den Ausführungen von Herrn Hördler zu Beginn der Hauptverhandlung am 22. April zusammengefasst hat. Der Angeklagte gehörte danach zu jenen Angehörigen der Wachkompanien, die eine Schlüsselfunktion hatten, mit umfassender Kenntnis der Abläufe der Vernichtung, mit besonderer Befehlsgewalt, mit besonderem Vertrauensverhältnis zur Kompanieführung, die als Unterscharführer eine hervorgehobene Stellung hatten, nicht nur innerhalb der SS-Angehörigen wegen ihrer Fronterfahrung, sondern vor allem auch gegenüber den 90 Prozent der Wachmänner, die keine Reichsdeutschen waren.

Dieses Verfahren ist also – das habe jedenfalls ich zu meiner Überraschung gelernt – keines jener Verfahren gegen einen der letzten noch lebenden SS-Angehörigen von Auschwitz, der zu den einfachen Befehlsempfängern gehörte, den Tatbeiligten auf der alleruntersten Stufe, sondern gegen einen SS-Unteroffizier mit wichtiger Funktion.

Was bedeutet das rechtlich ? Herr Brendel hat am Ende seines Plädoyers nur kurz gesagt, es komme nur eine Strafbarkeit wegen Beihilfe, aber keine Mittäterschaft in Betracht, denn der Angeklagte habe keine Tatherrschaft gehabt.

Richtig ist, dass Mittäterschaft schon allein deswegen nicht in Betracht kommt, weil dafür gem. § 265 StPO ein rechtlicher Hinweis hätte gegeben werden müssen. Aber Mittäterschaft ist in diesem Fall – anders als bei Herrn Gröning, dies an die Kollegen gewandt, die eine Mittäterschaft bei Herrn Gröning angenommen haben – gar nicht so fernliegend. Wir Anwälte Mayer, Walther und Nestler haben lange darüber diskutiert, ob wir beantragen sollen, dass dem Angeklagten ein derartiger Hinweis gegeben werden sollte und dann letztlich davon Abstand genommen. Aber ich will meine Überlegungen dazu doch vorstellen, denn sie zeigen, dass sich die Tatbeteiligung des Angeklagten jedenfalls im Grenzbereich zur Mittäterschaft bewegt.

Die Wertung, ob jemand als Mittäter gehandelt hat oder ob es sich um eine Beihilfe handelt, setzt in einem ersten Schritt voraus, dass geklärt wird, wer die Täter sind. Die Anklage beschreibt dies vage als „die Verantwortlichen der SS und des Lagers“ (48) und geht dann von „verantwortlichen Tätern“ aus. Im weiteren werden dann inzident, nämlich durch Zitierung von älteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs genannt: Hitler, Himmler, Göring, Heydrich und Globocnik, letzterer als wichtiger Organisator der Aktion Reinhard.

Das sind nach heute geltender Täterschaftslehre alle Täter hinter dem Täter, d.h. mittelbare Täter. Aber wer sind dann die eigentlichen Täter ? Das waren vor 1975 unter Zugrundelegung der subjektiven Theorie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs diejenigen Tatbeteiligten, die sich den verbrecherischen Willen Hitlers zu eigen macht hatten. D.h. ein Tatbeitrag, ausgeführt aus Rassenhass als niedriger Beweggrund begründete Täterschaft. Umgekehrt: Selbst eigenhändige Tatbegehung begründete allein noch keine Täterschaft.

Seit 1975 ist das mit der Neufassung des § 25 StGB eindeutig anders. Wer selbst die Tat begeht ist Täter: Hier also etwa, wer das Zyklon B einwirft. Sicherlich auch, wer die Entscheidung trifft, welche Menschen unmittelbar ermordet werden soll: Das sind der SS-Arzt oder der SS-Offizier, der an der Rampe selektiert.

Die Massenmorde in Auschwitz, dass ist – davon geht ja auch die Anklage aus – der arbeitsteilig organisierte Ablauf, der am Ende zum unmittelbaren Tötungsakt führt. In Auschwitz findet also das statt, was man eine „horizontale Aufteilung der verantwortlichen Tatbeitrage“ nennt – und das ist dem Grunde nach das typische Modell der Mittäterschaft.

Ich bilde zur Instruktion einen die Komplexität reduzierenden Lehrbuchfall: Eine Gruppe von Personen will nach einem planmäßigen Ablauf regelmäßig von zwei ankommenden Juden einen zur Arbeit zu zwingen, den anderen alsbald ermorden. Man setzt diesen Plan dann auch um mit folgender Aufgabenverteilung:

H (wie Höß) entwickelt einen detaillierten Plan und achtet darauf, dass dieser immer wieder angepasst wird.

A (wie Arzt) entscheidet, wer für den unmittelbaren Tod selektiert wird.

W1 (für Wachmann 1) bringt das Opfer zu der Stelle, wo er getötet werden soll.

B wirft das Zyklon B ein und setzt damit die unmittelbare Ursache, die zum Tod des Opfers führt.

W2 (für Wachmann 2) passt während des ganzen Ablaufs auf, dass das Opfer sich nicht wehren und fliehen kann.

Da alle Beteiligten bei diesen arbeitsteiligen Ablauf den Tod gemeinsam herbeiführen und dies auch so wollen (d.h. in dem Wissen handeln: Wir machen das, damit das Opfer auf diese Weise ermordet werden kann), dann würde man zweifellos alle als Mittäter am Mord des Opfer sehen.

Zurück zu Auschwitz: Dass die Bewachung in der arbeitsteilig organisierten Weise, in der in Auschwitz gemordet wurde, ein „wesentlicher“ Tatbeitrag ist, wird nicht nur nach diesem Lehrbuchbeispiel deutlich, sondern Verhindern von Gegenwehr und Flucht ist auch in Auschwitz insgesamt die Voraussetzung dafür, dass die Morde begangen werden können.

Das Problem ist nun, dass es innerhalb der – auf der arbeitsteilig/horizontalen Ebene jeweils „wesentlichen“ Tatbeiträge, zu denen eben auch das Bewachen zählt – wegen der hierarchischen Organisation, also auf der vertikalen Ebene, unterschiedlich zu gewichtende Tatbeiträge gibt: Diese Gewichtung richtet sich offensichtlich nach der Stellung in der hierarchischen Struktur und dem damit einhergehenden Grad an Verantwortlichkeit.

Hier setzten die Wertungen ein. Ich nehme zunächst den Lagerkommandanten (Höß): Er hat mit den einzelnen Abläufen des Mordprozesses unmittelbar wenig zu tun, aber die planende und lenkende Funktion. Dass Höß Täter ist, ist unzweifelhaft (allenfalls mag man diskutieren, ob er zu den mittelbaren Tätern gehört oder zu den Mittätern, aber das ist akademisch).

Gleichermaßen wird man diejenigen, die jeweils für die Teilbereiche der gemeinsamen „Aufgabe“ verantwortlich waren, wegen dieser leitenden Verantwortlichkeit als Täter einstufen – also den für die Selektionen verantwortlichen „Leiter“ der politischen Abteilung, den für das Einwerfen des Zyklon B Verantwortlichen, den Kommandanten des Wachsturmbanns.

Die für die wertende Betrachtung des Tatbeitrages von Hanning anschließende Folgefrage ist, wie weit man in der Verantwortungsstruktur vertikal nach „unten“ hin immer noch einen mittäterschaftlichen Tatbeitrag annimmt.

Man wird das an Hand der Wichtigkeit des Tatbeitrages – und es ist ein ganz entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, wie „wesentlich“ der Tatbeitrag ist – also an Hand der Funktion des Tatbeitrages für eine BEWACHUNGSAKTION – die hier zu prüfende Teil-Tat – beurteilen müssen.

Und je weiter in komplexen Systemen – und Auschwitz war ein solches – die Verantwortung verteilt und delegiert wird, um so weiter kommt prinzipiell auch Mittäterschaft in Betracht. Der Begriff der Tatherrschaft in seiner bildhaften Bedeutung ist hier nicht hilfreich – wer hatte denn in Auschwitz schon Tatherrschaft über die Fabrik des Mordens ? Sondern es kommt auf den Grad der Gestaltungsherrschaft im arbeitsteiligen Zusammenwirken an (Jakobs).

Ich nehme jetzt als Beispiel die Ankunft eines Transports und die Ermordung der Ankommenden: Eine oder zwei Wachkompanien sind im Einsatz. Also 120+ oder 240+ SS-Wachmannpersonal. Den Kompanieführer (bei der 3. Kompanie also Otto Stoppel) wird man als den Einsatzverantwortlichen für diese Bewachungsaktion sicherlich ebenfalls als Mittäter beim Mord der dann getöteten Menschen ansehen.

Das Funktionieren des Einsatzes ist vertikal gegliedert in Kompanieführer / Zugführer / Gruppenführer / Wachmänner. Auf der Ebene der Zugführer sind das je 3 oder 4 Personen. Und jetzt käme die Wertung – ist deren Beitrag ebenfalls „wesentlich“ für den Tatbeitrag des Bewachens ? Immerhin sorgen diese 3 oder 4 dafür, dass die Bewachung gut funktioniert. Zusammen mit dem Kompanieführer, so könnte man gut argumentieren, sind sie die „Täter“ der Bewachungsaktion. Oder anders: Die Unteroffiziere organisieren und leiten den Bewachungsvorgang.

Nach dieser Wertung wäre der Angeklagte Hanning ab dem Zeitpunkt, zu dem er Unterscharführer und damit auch Zugführer wird, im Hinsicht auf seinen objektiven Tatbeitrag Mittäter.

Im Subjektiven wäre diese Wertung auf der Grundlage der Beweisaufnahme leicht zu ergänzen. Es käme darauf an, ob der Angeklagte den Willen hatte, diesen objektiv mittäterschaftlichen Tatbeitrag zu leisten.

Ja, denn Hanning wollte Karriere machen, wollte gerade zu denen gehören, die in gehobener verantwortlicher Rolle an der Tat beteiligt sind; er wollte ja nicht nur zu den Wachmännern gehören, sondern er bewirbt sich für den Unterscharführerlehrgang, weil er mehr sein will als ein einfacher Wachmann. Und er versteht sich auch so, als einer der herausgehobenen SS-Männer.

Wer in Auschwitz wusste, dass seine Tätigkeit nichts anderem diente, als dem permanenten Morden, und wer sich mit diesem Wissen um eine für den Ablauf des Mordens wesentliche Leitungsfunktion bewirbt und dann diese Funktion einnimmt, der kann auch Mittäter gewesen sein.

Der Anklagte Hanning wird wegen Beihilfe verurteilt werden. Aber es wäre sogar eine Verurteilung wegen Mittäterschaft möglich gewesen.

Die Strafkammer wird das bei ihrer Urteilsfindung berücksichtigen.

Ich stelle keinen Strafantrag. Meine Mandantin Irene Weiss durfte in dieser Hauptverhandlung sagen, was ihr wichtig war. Mein Mandant Alex Moskovic hätte gerne an der Hauptverhandlung teilgenommen, aber die Sorge für seine kranke Ehefrau war ihm wichtiger. Beide Mandanten vertrauen der Weisheit des Gerichts.