Plädoyer Rechtsanwalt Thomas Walther vom 27. Mai 2016

Plädoyer im Verfahren gegen Hanning am 27.05.2016

Landgericht Detmold

Hohes Gericht,

sehr geehrte Herren Staatsanwälte und Damen und Herren Kollegen,

sehr geehrte Herren Verteidiger,

die letzten Stunden vor Ende der Beweisaufnahme seit zwei Wochen mögen geeignet sein, den Blick für das zu verstellen, was an diesem Verfahren so bedeutsam ist.

Ich will ganz offen mit Ihnen sein.

Zu viele der Überlebenden des Holocaust habe ich gesprochen, um nicht zu wissen, dass jede Stimme zählt. Und jeder Überlebende trägt in sich sein eigenes Auschwitz, welches nicht mit dem eines anderen, der den gleichen Leidensweg durch diese Todeshölle gehen musste, identisch sein muss. Die Wahrheitssuche bewegt sich an diesem höllischen Ort von Auschwitz stets in einem Bereich, in dem das Menschsein nicht mehr existierte.

Den Opfern, die ausnahmslos als von Anfang an endgültig Todgeweihte nach Auschwitz deportiert wurden, waren in der Überzeugung der Tätergruppe von SS-Führung, SS-Ärzten, SS-Offizieren, Unterführern und Wachmannschaften jedes physische Recht auf das Menschsein endgültig und umfassend entzogen worden.

Gleichzeitig diente die Überhöhung des deutschen Volkes und der Arischen Rasse dazu den Angehörigen der SS bei eigenem Elitebewusstsein durch entsprechende Propaganda letzte Skrupel zu nehmen, die Notwendigkeit der Vernichtung unwerten Lebens anzuerkennen und zu unterstützen.

Das war Konsens der Täter.

Ich werde versuchen Ihnen einige Aspekte aufzuzeigen, in denen der Angeklagte alles daran gesetzt hat, jenen notwendigen Zuwachs an destruktiver, menschenverachtender und grausamer Lebenshaltung in seiner persönlichen Entwicklung vor uns zu verbergen.

Es beginnt 1935 mit der Hitler Jugend. Hanning schildert die HJ seines Heimatdorfes, als ob es ein Turn- und Sportverein unter Leitung des Dorfbürgermeisters gewesen sei. Er betont umständlich, dass lediglich Sportwettkämpfe stattfanden und er selbst bald keine Zeit mehr gehabt habe, am Dienst der HJ teilzunehmen.

Es bestand jedoch Teilnahmepflicht. Zweimal wöchentlich am Mittwoch und Samstag war Dienst angeordnet. Nach § 2 des Gesetzes über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936 war angeordnet: „Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.“ Warum will Hanning uns glauben machen, dass er bereits damit nichts zu tun gehabt habe?

Bis zu seinem freiwilligen Eintritt in die SS scheint es den Nationalsozialismus, der über die HJ die deutsche Jugend „hart wie Kruppstahl“ werden lassen sollte, im Leben des Angeklagten nicht gegeben zu haben.

Und die 1940 getroffene eigene Entscheidung des nun 19-Jährigen für den freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS wird in den verantwortlichen Schoß einer künftigen Stiefmutter gelegt, weil sie eine linientreue NSDAP-Krankenschwester war.

Schließlich wird die urkundlich belegte förmliche Versetzung vom Ersatz-Regiment „Der Führer“ in Stralsund nach Auschwitz im Januar 1942 von Hanning gar nicht beim Namen genannt. Stattdessen soll der Weg von einem angeblichen Krankenhaus in Katowitz direkt in ein „Sanatorium“ auf der „Solahütte“ und nur von dort nach Auschwitz geführt haben. Und geradezu anrührend spricht er nach Dienstantritt in Auschwitz von seiner großen Sehnsucht zur alten Kampfeinheit, die weiterhin in Russland kämpfte. Er verschweigt uns, dass im Januar 1942 sein SS-Regiment „Der Führer“ unter Oberstrumbannführer Otto Kumm mit 2000 Mann in der „Winterschlacht von Rshew“ binnen weniger Wochen auf 35 Mann dezimiert wurde.

Jedenfalls in seinem hohen Alter könnte er doch die offene Einsicht gewinnen, sein eigenes Leben in Auschwitz gerettet zu haben.

Ich sage: „Das passt alles nicht.“

Nicht die Irrwege eines jungen Mannes in Ostwestfalen zu Beginn eines von der NS-Propaganda fanatisierend beschriebenen Krieges der Helden in SS-Uniformen sondern nur das Wirken „Dritter“ sollen den Angeklagten zu den hier entscheidenden Momenten seines Lebens in die eine oder andere Richtung gelenkt haben.

„Ich glaube ihm nicht.“

Doch nochmals zu den „Stimmen der Überlebenden“.

Ich sagte: „Sie alle zählen!“

So habe ich nicht erst zu Beginn des Verfahrens in Detmold oder in Lüneburg und auch nicht erst zu Beginn des Verfahrens gegen Demjanjuk in München für mich das Ziel formuliert: „Die Stimmen der Überlebenden müssen gehört werden“, sollte es je zu einem Prozess kommen. Die Überlebenden sollen dem Prozess ein Gesicht geben. – Und ich dachte damals 2008 keinesfalls nur an Demjanjuk. Das Verfahren gegen einen Trawniki-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor sollte der „Türöffner“ für die vielen Verfahren werden, die die deutsche Justiz versäumt, verschlafen und vergraben hatte. Aus den „vielen“ wurden dann nur wenige.

Das Gesicht dieser Verfahren sollte durch die Überlebenden geprägt werden, die für ihre ermordeten Familien als Nebenkläger vor Gericht sprechen.

Eine gewisse Demut habe ich im Laufe der Jahre gelernt. Keinesfalls jeder Staatsanwalt, Richter oder Rechtsanwalt teilte und teilt meine Auffassungen. Aber auch nicht ausnahmslos jeder Holocaust Überlebende möchte über die Frage einer Nebenklage oder generell über dieses Thema mit einem deutschen Rechtsanwalt sprechen. Und keinesfalls jeder, der sprechen möchte, hat auch die Kraft, dies vor Gericht zu tun.

Auch ist mir auf dem Hintergrund meiner eigenen drei Jahrzehnte als Richter oder auch jahrelang als Staatsanwalt immer bewusst gewesen: Staatsanwälte und Gerichte müssen überzeugt werden, dass die „Stimmen der Überlebenden zählen und gehört werden“. Und das ist uns allen – so meine ich – doch sehr gut gelungen.

Selbstverständlich sind mir bei diesen Bemühungen auch immer wieder selbst die Grenzen aufgezeigt worden, weil ich zumeist mehr Beteiligte in den Gerichtssaal bringen wollte, als dies nach der Strafprozessordnung angezeigt war. Auch geschah es gerade in diesem Verfahren, dass eine vom Gericht geladene Zeugin aus Kanada zweimal vor Gericht erschien und schließlich doch unvernommen zurück nach Kanada reiste. Sie erinnern sich alle, dass in jenen Tagen andere geladene Zeugen Vorrang erhielten und schließlich auf die Vernehmung der Zeugin Judith Kalman von mir verzichtet wurde.

Und dennoch bleibe ich dabei: „Jede Stimme der Überlebenden zählt!“ Denn die Aussagen der damals vernommenen Zeugen Richt-Bein und Lesser waren doch zweifelsfrei bedeutsam. Ihre Stimme zählt.

Ich habe gelernt, dass nicht ein einzelnes Gerichtsverfahren und schon gar nicht ein großer Bericht mit Kamera oder ein solcher in den Printmedien über dieses oder jenes Verfahren das wirklich Entscheidende ist.

Von Bedeutung für unsere lebendige Welt in Gegenwart und Zukunft ist der Wandel, die Rückbesinnung auf Grundsätze des Rechts in der Behandlung und im Verständnis des größten Menschheitsverbrechens seit Menschengedenk:

Gerechtigkeit ist den Opfern geschuldet!

Und daran haben Sie alle hier im Gerichtssaal und die vielen Verfahrensbeteiligten in aller Welt mitgewirkt und sich – so denke ich – um diese Gerechtigkeit verdient gemacht.

Inzwischen wissen wir auch dass die Irritationen der letzten zwei Wochen kluger Weise hätten vollkommen vermieden werden können. Dem wird voraussichtlich nicht widersprochen werden.

Und nun zum Ergebnis des Verfahrens gegen den Angeklagten Reinhold Hanning:

Die Staatsanwaltschaft hat im Wesentlichen das Ergebnis der Beweisaufnahme zutreffend zusammengefasst. Soweit es Differenzen im Detail gibt, wird dies von meinem Kollegen Herrn Professor Dr. Nestler im Anschluss ausgeführt werden.

Einige wenige Anmerkungen werde ich dennoch auch zum Ergebnis der Beweisaufnahme ergänzend machen.

Mir geht es in meinem Plädoyer aber in erster Linie um die von mir vertretenen Nebenkläger, von denen einige hier vor Gericht gesprochen haben.

Es ist der Angeklagte selbst, der mir die Richtung für meine abschließenden Ausführungen im Laufe der zurückliegenden Verhandlungstage vorgegeben hat.

Ich sagte bereits: Der Angeklagte will uns glauben machen, in den Momenten seines Lebens, die heute als Weichenstellungen in Richtung auf eine Beteiligung am Menschheitsverbrechen des Massenmords in Auschwitz gewertet werden, haben andere Menschen ihn beeinflusst oder gar Entscheidungen für ihn getroffen, die er nicht wollte.

Und nun hat er sich über etliche Wochen in diesen Gerichtssaal gesetzt und uns – sein Gesicht gezeigt. Nein. Er hat uns zwei Gesichter gezeigt.

Das eine Gesicht war so konsequent in einer 45-Grad-Stellung schräg nach unten gerichtet, dass es wochenlang unmöglich schien, auch nur kurzfristig eine gemeinsame Sichtachse herzustellen.

Einige der Zeugen haben den Angeklagten wegen dieser Körpersprache und Blickrichtung angesprochen. Sie haben ihn aufgefordert, doch aufzublicken. Hedy Bohm aus Toronto sagte zu ihm „Schauen sie mich an. Sie brauchen keine Angst haben!“

Zuweilen bat der Verteidiger darum, seinen Mandanten nicht direkt anzusprechen.

Aber können Sie sich wirklich dieses umgekehrte Déjà-vu-Erlebnis ausmahlen, welches die Nebenkläger hatten und in welche Vorstellungswelt sie allein durch diese konsequente Blickrichtung gestoßen wurden? – Etliche Zeugen und viele Überlebende haben für die unterschiedlichsten Situationen in Auschwitz beschrieben, dass es oft unberechenbar gefährlich werden konnte, wenn man einem SS-Mann in die Augen schaute. – Heftige Schläge waren das mindeste, was man befürchten durfte. Zuweilen konnten solche Blicke aber auch auf eine todbringende Weise beantwortet werden.

Und nun begegnet der Angeklagte den Überlebenden in deren eigenen damaligen Körperhaltung.

Das zweite Gesicht zeigte er erstmals, als nicht ein Überlebender von Auschwitz sondern der Zeuge Willms vom LKA über die Karriere des Angeklagten bei der SS sprach und zahlreiche Dokumente zeigte und erörterte, die z.T. die Unterschrift des Angeklagten aus der damaligen Zeit trugen. Nun war Hanning hoch interessiert. In aufrechter Sitzposition und mit erhobenem Blick zu den abgebildeten Dokumenten folge er den Ausführungen des Zeugen Willms.

Selbst als die zwei Stunden Verhandlungsdauer um 30 Minuten überschritten waren, ermüdete Herr Hanning nicht im Geringsten.

Die überwiegende Deutung für diese zwei Gesichter des Angeklagten – aus Sicht von Zeugen, die ihn im Gerichtssaal 70 Jahre nach Auschwitz erlebten: Damals wurde die Missachtung der Juden durch die SS in Auschwitz u.a. dadurch demonstriert, dass diese nicht offen aufschauen durften. Heute erwidert Herr Hanning keine Minute den Blick der gleichen Juden und demonstriert gleichsam die damalige Missachtung erneut. KEIN Blickkontakt.

Dieses Wegschauen gegenüber den Zeugen hat auch eine weitere Komponente, die in der Demonstration besteht, mit dem was da gesprochen wird, persönlich nichts zu tun zu haben. Erst die Dokumente zur eigenen SS-Karriere berühren das eigene „Ich“ des Angeklagten.

Herr Hanning, Sie schauten nicht auf als Max Eisen an dieser Stelle zum Gericht als Zeuge sprach. Er kam am 18. Mai 1944 als 15 Jähriger zu Ihnen nach Auschwitz. Es war noch an der alten Rampe als Sie mit ihrer 3. Kompanie auch dort Dienst taten. Nachts wurde entladen. Nach kurzer Zeit wurde Tibor, wie er damals hieß, im Häftlingskrankenblock 21 im Stammlager ein Assistent des polnischen Häftlingsarztes Dr. Tadeusz Orzesko. Er war in Ihrer Nähe. Damals durfte er Ihnen nicht direkt in die Augen schauen. Heute würdigten Sie ihn keines Blickes.

Stellvertretend für viele Zeugen und weit mehr Nebenkläger wiederhole ich einige seiner Worte, die Sie aus seinem Munde am 18. Februar nicht an sich herankommen ließen.

Sie verschlossen demonstrativ Ihre Sinne, obwohl Sie die Übersetzung akustisch hören konnten.

Max Eisen sagte:

Meine Familie und ich hatten nur eine oder zwei Minuten zusammen am Bahnsteig, und ich war so froh, meine Mutter und meine zwei Brüder zu sehen. Meine kleine Schwester rührte sich nicht, vermutlich, weil meine Mutter sie nicht hatte stillen können. …

und weiter….

Auf einer Seite des Bahnsteigs loderten Flammen und Rauch auf, und ich dachte, es sei eine Art Fabrik. Ich roch brennendes Fleisch. Hinter dem gleißend hell erleuchteten Bahnsteig lag alles in Finsternis. …

und weiter….

Ich stand mit meinem Vater und meinem Onkel in der Reihe der Männer. Mein Großvater, meine Großmutter, meine Mutter … meine zwei kleinen Brüder und meine Tante wurden im Marschschritt weg geführt. … Ich hatte keine Gelegenheit, mit meiner Mutter zu sprechen, wir hatten noch nicht einmal Blickkontakt, und ich konnte ihr keine letzten Worte mehr sagen. Später erfuhr ich, dass meine Mutter, Großeltern und Geschwister alle im Krematorium II vergast worden waren….

Herr Hanning: Hören sie sich an, wie systematisch Sie die Arbeitssklaven verhungern ließen, die nicht gleich getötet wurden und sie nicht anschauen durften:

Max Eisen sagte:

…. Ich überlebte mit 300 Kalorien pro Tag, bestehend aus einer Tasse Tee am Morgen, einen Schöpflöffel voll wässriger Suppe zu Mittag und einer Tasse Ersatzkaffee, einer dünnen Scheibe Brot und einem winzigen Stück Margarine zu Abend. Diese Kost nahm uns alle schwer mit. Wir magerten schnell ab, bekamen Hungerödeme, und wären mein Vater und Onkel nicht bei mir gewesen, hätte ich nicht einmal die erste Woche überstanden. Ich erduldete die ständige Last der schweren Arbeit, die Prügel, die mangelnde Ernährung, und einen Körper, der nicht mehr mitmachte. Während der Schinderei des Tages bekamen wir keine Flüssigkeit. Ich sah, wie junge Männer um die Zwanzig zusammenbrachen. Sie konnten bei dieser Kost nicht überleben und gaben einfach auf. Der Hunger trieb manche in die Verzweiflung – Entmenschlichung durch Aushungern. Eines Tages bei der Suppenausgabe rauften mehrere Häftlinge miteinander, um sich in den Kessel zu stürzen und den letzten Tropfen zu bekommen. Da habe ich für mich entschieden, dass ich mich nie so gehen lassen würde, komme was wolle.

Herr Hanning: Hören Sie sich an, wie ein streng gläubiger orthodoxer Vater seinen 15 jährigen Sohn vor dem Verhungern rettete. Er sagte es bereits. Aber Sie schauten weg und hörten es nicht. Nun sage ich es Ihnen. Sie hören mich!

Max Eisen sagte:

An einem anderen Tag, als wir von der Arbeit zurückkamen, sah ich meinen Vater und Onkel innerhalb des Tors auf mich warten, wie immer. Meine Einheit kam abends immer als Letzte zurück und ich sah sie immer da stehen und auf mich warten. Manchmal gelang es ihnen, bei einem Arbeitseinsatz ein Stück Brot oder eine Kartoffel abzustauben, und sie teilten ihr Glück immer mit mir. Wenn die Arbeitseinheiten von ihrer täglichen Arbeit zurück ins Lager marschierten, prüfte der diensthabende SS-Unteroffizier am Tor die Gefangenen, ob jemand etwas in der Jacke oder Hose hineinschmuggelte….

und weiter….

An jenem Tag arbeitete ihre Einheit in der Nähe einer Baracke, die „Kanada“ hieß … und ein Mädchen aus unserer Stadt hatte meinen Vater erkannt und ihm ein in Stoff gehülltes Stück Speck zugesteckt. Mein Vater hatte es unter seiner Jacke ins Lager geschmuggelt. Er ließ das Stück Speck unter meine Jacke schlüpfen, während wir dicht beieinander standen. Mein Onkel gab uns mit seinem Körper Deckung, damit niemand die Übergabe mitbekam. Ich war verblüfft, ein Stück Speck in der Hand zu halten. Wir stammten aus einer traditionellen orthodoxen Familie, wir aßen kein Schweinefleisch, und doch sagte mein Vater mir, ich müsse jeden Tag ein bisschen davon essen.

und weiter….

…Jede Nacht nahm ich einen Bissen, diese kleine Dosis Energie, und ich bin überzeugt davon, dass dieses kleine bisschen Eiweiß mir die Kraft gab, mich dem nächsten Tag zu stellen.

Herr Hanning, Sie hörten nicht zu und schauten weg als Max Eisen am 18. Februar vom Töten durch Selektion im Häftlingskrankenblock 21 erzählte. Sie waren dort und sorgten dafür dass er, der 15 jährige Junge nicht davon laufen und seine Freiheit erlangen konnte. Nun hören Sie verlässlich von mir, was

Max Eisen sagte:

So wurde ich Zeuge dessen, dass dieses kleine Lagerlazarett Teil der ganzen Täuschung war. Patienten hatten keine Zeit zu genesen; viele von ihnen wurden kurz nach der medizinischen Behandlung auf Laster geladen und zu den Gaskammern in Birkenau gebracht. Die Lasterfahrer kamen einige Stunden später zurück in den Operationssaal, wo sie blutige Lappen aus ihren Hosentaschen zogen. Die Lappen waren voller Zähne mit Goldkronen und Füllungen, die ich dann mit den mir zur Verfügung stehenden Instrumenten entfernen musste. Ich war entsetzt über diese Fledderei, wie sich Leute auf so grausame Weise bereicherten.

Herr Hanning, der Zeuge Max Eisen ist wenige Jahre jünger als Sie. Seit seine Familie in Auschwitz ermordet wurde, leidet er immer wieder unter ein und demselben Alptraum, der immer wieder ihn im Schlaf quält. Er sagte am 18. Februar:

Da sehe ich meine Großeltern, meine Mutter, meine drei Geschwister und meine Tante, in eine überfüllte Gaskammer gesperrt, ich sehe das Gas vom Boden zur Decke aufsteigen und sie alle einhüllen. Ich sehe sie ersticken und sterben, während die SS-Offiziere den Todeskampf durch Gucklöcher aus Panzerglas beobachten. Dieses Bild wird mich nie verlassen.

Max Eisen spricht von einem Alpraum.

Max Eisen irrt.

Das ist kein Alptraum. Sie sind auch nicht „gestorben“. Seine Familie und all die Juden aus Ungarn in dieser Gaskammer des Krematoriums II sind am 18. Mai 1944 in Auschwitz nicht „gestorben“. Sie sind grausamst ermordet worden. Und es ist weder Traum noch Alptraum.

Es ist ihre Wirklichkeit jener Nacht vom 18. Mai 1944. – Es ist unsere Wirklichkeit.

Niemand von uns kennt diese Menschen, die mit Max Eisen seit dem 18. Mai 1944 diese unauslöschliche geistige Verbindung haben. Nur Max Eisen ist ihnen begegnet in all den Jahren seiner Kindheit. Es sind u.a. seine 40- jährige Mutter Ethel Eisen, geborene Friedman, mit seinen beiden Brüdern, dem 12-jährigen Shmuel und dem 8-jährigen Moshe sowie der kleinen Schwester Judith mit nur 9 Monaten. Sie sind zwar ermordet worden aber wurden damit nicht zum Schweigen gebracht. Sie haben den ältesten Sohn und großen Bruder Tibor – heute Max Eisen – beauftragt und autorisiert für sie zu sprechen. Er hat die Aufgabe über sie zu sprechen und uns alle zu erinnern hier und heute in diesem Prozess.

Diese Namen erinnern uns daran, dass diese Menschen gelebt haben, ein frohes und glückliches Leben. Sie haben gearbeitet und ihr Familienleben genossen. Und die Eltern haben sich ihrer Familien und der Kinder erfreut. Tibor war und ist weiterhin als Max Eisen einer der Männer in dieser Familie.

Er hat aus der unauslöschlichen Verbindung die Aufgabe, über ihre Ermordung – nicht über ihren Tod – nein über den Mord an ihnen zu sprechen und stets daran zu erinnern.

Dieses Erinnern soll ein Erinnern in uns allen sein an die Ermordung dieser Familie und all der anderen Familien, die in Detmold genannt wurden und der vielen tausenden von Familien, die ungenannt und unbekannt in seelenlose Asche von Menschenhand verwandelt wurden.

Am Freitag 6. Mai vor wenigen Wochen war der jüdische Holocaust-Gedenktag Yom Hashoa. An diesem Tag sprach ich in einer großen Synagoge von Boca Raton in Florida, als Max Eisen zur gleichen Zeit in Polen auf dem „March of the Living“ nach Auschwitz kam. Und ich lernte an diesem Tag etwas über „Neshama“ – auf Jiddish „Neshomele“. Es ist nach jüdischem Glauben die höchste von drei Stufen der menschlichen Seele in der Unsterblichkeit. In den meisten Familien, die ich dort traf, sind die Folgen des Mordens von Auschwitz und all den anderen höllischen Orten sichtbar und spürbar in ihren Worten, auch wenn nicht jeder von ihnen direkt darüber spricht. In tieferen Gesprächen sprechen sie aber auch von dem „Neshama“ in den ermordeten Familien. Diese Seelen der Toten geben den Lebenden zuweilen die Stärke und Kraft, die wir an den Zeugen von Detmold erfahren durften. Und die Neshama-Seele in der Unsterblichkeit begegnet den Lebenden mahnend und auch klagend nicht nur des Nachts in ihren Träumen. Sie spricht auch aus ihnen zuweilen an einem Ort wie diesem hier in Detmold.

Herr Hanning, das war der 18. Mai 1944 in Auschwitz bei Ankunft der Familie Eisen des Nachts. Es war ein Donnerstag. Das betone ich deshalb, weil ich auf die Bedeutung eines anderen Tages – es könnte Samstag der 20. Mai 1944 gewesen sein – in ihrem eigenen Leben noch zurück kommen werde.

Angesichts der Differenzen mit der Staatsanwaltschaft zur NEBENKLAGEBERECHTIGUNG der Nebenkläger Haelion und Handeli muß auch hier betont werden:

Auf der Grundlage des angeklagten und in der Hauptverhandlung festgestellten Sachverhalts waren alle Nebenkläger in diesem Verfahren, die ihre Eltern und/oder Geschwister im Tatzeitraum durch den planmäßig arbeitseilig ausgeführten systematischen Massenmord in Auschwitz Birkenau oder im Stammlager verloren haben, zu Recht an diesem Verfahren beteiligt.

Von Anfang an waren daher auch jenseits der „Ungarnaktion“ die Tatbeteiligungen an den Mordtaten zu Lasten der Familien Schwarzbaum, de Vries, Sonder, Friedländer und auch Haelion sowie Handeli vom Anklagesatz umfasst.

„Nebenkläger“ kennen wir in zahlreichen Verfahren der Gegenwart. Zumeist haben sie die Leidensabläufe der Taten nicht passiv miterlitten wie die Opfer. Im Fall der Nebenkläger in diesem Verfahren liegt die Besonderheit darin, dass sie durch den Verlust des Lebens ihrer Eltern und Geschwister zu Nebenklägern wurden, aber gleichzeitig der Holocaust-Spezies der „Über-Lebenden“ angehören und die Hölle von Auschwitz auch selbst in all ihrer Unmenschlichkeit erlebten und alle Grausamkeiten auf dem Weg in den Tod bis zu einer sehr schmalen Lebenszone kurz vor dem eigenen Tod erfahren mussten. Wir müssen uns daher immer vor Augen halten, wie eng und nah die Verbindung zwischen den Ermordeten und ihren überlebenden Geschwistern und/oder Kindern in dieser schmalen Zone zwischen Leben und Tod wurde.

Dieses Über-Leben war bei der Vernichtung der Menschen in jeweils einem voraus geplanten Zeitfenster am ehesten für die circa 20 % der aus Ungarn deportierten Juden möglich, die erst spät nämlich im Jahr 1944 in Auschwitz ankamen und nicht sofort nach Ankunft ermordet wurden. Die geplante Lebensbegrenzung erfolgte von Anbeginn durch ein Ernährungsdefizit, welches zwangsläufig zum Tod führt je nach Konstitution und einigen Details des Alltags.

Die späte Ankunft von Nebenklägern in diesem Verfahren betrifft nicht nur die ungarischen Juden ab 16. Mai 1944, sondern auch die Griechischen Juden ab April 1944. Auch Frau Friedländer mit Ankunft in Theresienstadt im Juni 1944 hatte dadurch ihre Überlebenschancen.

Das Überleben von Leon Schwarzbaum bei Ankunft in Auschwitz am 01.08.43 und Erna de Vries am 16.07.43 war trotz früher Ankunft in Auschwitz nur wegen der Verlegung in andere Lager möglich, während Justin Sonders Überleben mit Ankunft am 03.03.43 nach insgesamt 17 Selektionen in Monowitz bei Schwerstarbeit und Durchleiden der Todesmärsche an ein Wunder grenzt.

Das Überleben eines jeden Nebenklägers ist einzigartig und damit das Spiegelbild des auch für sie geplanten Massenmordes.

Die Anklage gegen Hanning beschreibt aus dieser realen Welt der Überlebenden die Allgegenwart des Todes als „Ganzheitliche Praxis des Mordens“.

Denn geplanter Mord in Auschwitz war eben nicht nur die grausame Tötung in den Gaskammern nach sofortiger Selektion an der Rampe.

Und deswegen liegt das besondere Verdienst der Anklageschrift darin, erstmals in der Geschichte der Strafverfolgung von Mordtaten in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern auch das langsam vollzogene Morden durch Verbrauch von Lebensenergien bei schrittweise reguliertem und aktiv organisiertem Verhungern zu erfassen. Wir haben vom Sachverständigen die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse zum Verhungern gehört. In einer vom Überfluss geprägten Gesellschaft benötigen wir zum Nachweis der gesteigerten Grausamkeit des Hungertodes den Sachverstand der Wissenschaft, weil wir selbst nicht mehr wissen, was Hunger ist.

Dieses organisierte Verhungern mündet in die täglichen Selektionen während der Appelle und das körperliche Versagen der Lebenskräfte in Arbeitskommandos, in das Erscheinungsbild der „Muselmänner“ und in das Sterben im Schlaf.

Nein! – Kein Sterben im Schlaf! – Es ist ein Ermorden im Schlaf.

Mangelnde Gesundheitssorge und das „Geschehenlassen“ von Krankheiten ohne Behandlung sowie das Töten im Krankenblock verwandelt bereits die geringste Erkrankung zum Todesurteil, welches der Körper und die Organe des Opfers oft auch ohne finalen Tötungsakt an sich selbst vollstreckte.

Das gefürchtete Fleckfieber wurde nicht selten dadurch bekämpft, dass die Krankenblocks durch Selektionen mit der Phenolspritze oder – je nach dort gegebenen freien Kapazitäten – durch Transport in die Gaskammern bekämpft wurde. So wurden die Überträger der Krankheit, nämlich Läuse, Milden, Zecken oder Flöhe gemeinsam mit den jüdischen Opfern durch Vergasung vernichtet.

Wir stehen mit dieser Anklageschrift in diesem Verfahren vor den diabolischen Auswüchsen und letztlich vor den Trümmern einer Gesellschaft, die durch Barbarisierung der Menschen – und eben auch des Angeklagten – entstanden sind.

Und nun zu einigen wenigen Details der „Einlassung des Angeklagten“, einem anachronistischen und untauglichen Versuch, den Angeklagten aus diesem Prozess der „Barbarisierung und Entmenschlichung“ in Auschwitz auszuklammern.

Ich befasse mich mit Angaben, die der Angeklagte über seinen Verteidiger hat vortragen lassen, ohne dass nachfolgend sich aufdrängende Fragen beantwortet wurden.

Der Angeklagte hat am 05.12.1944 ein Heiratsgesuch an das Rasse- und Siedlungshauptamt gestellt und die Genehmigung der Ehe mit seiner späteren Ehefrau Genoveva Hajduga beantragt. Sie war zu der Zeit im siebten Monat schwanger und lebte 22 km nördlich von Auschwitz in ihrem Geburtsort Myslowitz.

Als im Dezember 1944 sich von Osten die Rote Armee rasch Auschwitz näherte, war der Angeklagte als Unterscharführer bereits seit sechs Monaten 600 km entfernt von seiner Braut in der 8. Kompanie des SS-Totenkopf-Wachbataillon KZ Sachsenhausen bei Berlin.

Mit Datum vom 14.11.1944 hat Hanning für sein Heiratsgesuch einen Lebenslauf geschrieben, in welchem er seinen Eintritt in die Waffen-SS und seine Karriere auf wenigen Zeilen beschrieb wie folgt:

„… Vom 7. – 14. Lebensjahr besuchte ich die 8-klassige Volksschule zu Billinghausen. Vom Tage meiner Schulentlassung [bis] zum Tage meiner Einberufung war ich als Fabrikarbeiter tätig. Am 20.4.35 trat ich in die Hitlerjugend ein. Am 25.7.40 trat ich als Freiwilliger zur Waffen SS ein. Nachdem ich im Ersatzbataillon SS „Der Führer“ ausgebildet war, wurde ich im Dezember 1940 zum Feldregiment SS „Der Führer“ versetzt. Bei der gleichen Einheit nahm ich an der Besetzung Holland und Frankreich sowie an den Feldzügen Serbien und Russland teil. Am 20.9.41 wurde ich im Osten verwundet. Vom Reserve Kriegslazarett Radom, in dem meine Verwundung ausheilte, wurde ich zum Ersatzbataillon SS „Der Führer“ versetzt. Am 23.1.1942 erfolgte meine Versetzung zum SS Totenkopf Sturmbann Auschwitz und am 14.6.44 zum SS Totenkopf Wachbataillon Sachsenhausen, wo ich noch heute meinen Dienst versehe.“

Mit seiner am 29. April 2016 hier vor Gericht verlesenen Aussage hört sich die Karriere des Angeklagten in wesentlichen Teilen vollkommen anders an. Hanning ließ erklären, dass dieser Lebenslauf „so nicht ganz richtig sei“.

Ich werde Ihnen zeigen: Jedes Wort dieses Lebenslaufes stimmt.

So will der Angeklagte uns heute glauben machen, dass bereits im Juli 1940 die spätere zweite Ehefrau des Vaters fünf Monate vor deren Eheschließung dafür gesorgt habe, dass er sich freiwillig zur SS meldete. Eigentlich habe er sich zur Wehrmacht melden wollen. Aber selbst auch dieser Wunsch sei primär nicht seine – sondern die Idee seines Großvaters gewesen. Die Vorstellung des Großvaters sei es gewesen sich in Augustdorf – Standort Sennelager – gemeinsam mit dem Schulfreund zu melden, damit man jedenfalls in der Grundausbildung zusammen sein werde.

Letzteres erscheint im ersten Kriegsjahr eine eher naive Vorstellung eines fürsorglichen Großvaters zu sein während die Idee von einer künftigen „bösen Nazi-Stiefmutter“ eine eher phantasievolle Überhöhung des Einflusses einer Krankenschwester mit NSDAP-Parteibuch auf die Waffen-SS ist.

Die entscheidenden Rahmenbedingungen waren eher gekennzeichnet durch das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935. Nach § 8 Absatz 2 wurden die Wehrpflichtigen in dem Kalenderjahr einberufen, in welchem sie das 20ste Lebensjahr vollenden. Hanning war also im Jahr 1941 einzuberufen.

Nach § 8 Absatz 3 hätte Hanning vor Eintritt in die Wehrmacht seine sechsmonatige Dienstpflicht im Reichsarbeitsdienst als Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst ab Juni 1940 leisten müssen, bevor er dann ab Februar 1941 zum aktiven Wehrdienst hätte einberufen werden können.

Die Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1921 wurden generell in der Zeit vom 27.05.1940 bis 22.06.1940 gemustert.

Ich greife zurück auf das Verfahren von Lüneburg. Auch Oskar Gröning ist Jahrgang 1921und meldete sich freiwillig zur SS, obwohl sein älterer Bruder zur Wehrmacht gegangen war. Gröning machte keinen Hehl aus seiner damaligen nationalsozialistischen Überzeugung. Der Angeklagte Hanning versteckt sich geistig hinter einer bösen intriganten Nazi-Stiefmutter.

Dennoch bleibt festzustellen, dass er sich entgegen dem Rat seines Opas nicht zur Wehrmacht 1941 einziehen ließ sondern sich bereits im Juli 1940 freiwillig zur SS meldete. Den obligatorischen Reichsarbeitsdienst vermied er dadurch so wie auch Gröning, der sich gleich verhielt.

Aus dem Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 15. Juli letzten Jahres zitiere ich als Beispiel für die Haltung der Jahrgänge von Wehrpflichtigen, die sich damals in den ersten Kriegsmonaten freiwillig zur SS meldeten, weil wir dazu von Hanning absolut nichts Tragfähiges bis heute erfahren haben. Eventuell sieht sich Herr Hanning doch noch veranlasst, in seinem letzten Wort etwas „Glaubhaftes“ jenseits der Stiefmutter-Geschichte in Bezug auf seine eigenen Haltungen und Entscheidungen zu erklären. Glaubt er denn wirklich allen Ernstes durch das bisherige Agieren sein „Gesicht zu wahren“ oder die eigene Familie zu schützen? Wäre nicht auch für ihn in diesem Bereich eine gewisse ehrliche Offenheit ähnlich befreiend und hilfreich wie für Oskar Gröning?

Im Gröning-Urteil lesen wir:

In den Augen des Angeklagten war die SS eine „Elite-Kaste“, eine „zackige Truppe, die immer ruhmbedeckt nach Hause kam“. Er war begeistert über die militärischen Erfolge der deutschen Truppen in Polen („Die Polacken verhauen in 18 Tagen!“) und Frankreich. Um Teil der vermeintlich ruhmreichen SS zu werden, meldete er sich im Oktober 1940 als Freiwilliger zur SS. Weil er – also Gröning – nicht die Absicht hatte, im Sinne der SS-ldeologie „den Tod zu nehmen“, d.h. sein Leben an der Front zu riskieren, erklärte er bereits bei seiner Musterung, er wolle „Zahlmeister“ werden. Nach der Grundausbildung wurde er – seinem Wunsch entsprechend – in Besoldungsstellen der SS in Ellwangen und Dachau eingesetzt und weiter ausgebildet.“

Hanning legt eine Aufstellung seiner verschiedenen Einsätze an der Front vor. Allein die Einsatzorte in Holland, Frankreich, Serbien und schließlich Russland vermitteln einen Eindruck von jener „ruhmbedeckten, zackigen Truppe“, zu der Gröning sich drei Monate nach Hanning meldete.

Die Präzision dieser Daten zu seinem „Frontdienst“ soll dadurch entstanden sein, dass der Angeklagte „seinerzeit“ mit der Schreibmaschine eine Übersicht über seinen Frontdienst gefertigt haben will. Er fügt seiner Einlassung die Kopie eines 16,5 x 6 cm kleinen Zettels bei, der mit diesem Format quer in keine Schreibmaschine gespannt werden konnte.

Und was bedeutet denn wohl konkret die Zeitangabe, „seinerzeit“ habe er diese Aufstellung auf einer Schreibmaschine geschrieben?

Die Daten enden mit der Zeile „vom 20.9.41…..Schlacht im Raum Kiew (Verwundet)“

Ich bin überzeugt: Dies Dokument in Fotokopie war und ist im Original nicht nur 6 cm hoch. Der präsentierte Schnipsel ist die Teilkopie einer Gesamtaufstellung, die der Angeklagte uns vorenthält.

In der Zeit vom 08. Dezember 1940 bis 20. September 1941 folgen präzise und in der Militärgeschichte nachvollziehbare Einsätze, die jeweils auf den Tag genau bestimmt sind in Holland und Nordfrankreich als „Sicherung“ bzw. „Besatzung“,

beim Feldzug gegen Serbien binnen 10 Tagen bis zur Kapitulation Serbiens am 18. April und sodann mit seinem Regiment „Der Führer“ als Teil der SS-Division „Reich“ im Rahmen der Aktion „Barbarossa“ ab 25. Juni mit dem Vorstoß zur Beresina bis 8. Juli, und über Kämpfe am Dnjepr und am Jelnja-Übergang bei Smolensk bis hin zur sog. „Verfolgungsschlacht“ bei Kiew, während der er dann am 20. September 1941 verwundet wurde.

Man fragt sich, warum der Angeklagte uns nur diesen Papierschnipsel von 16,5 x 6 cm anbietet und nicht seinen weiteren Weg nach dem „Frontdienst“ ebenso präzise beschreibt.

Er sagt auch nur relativ ungenau, dass er „im Raum Kiew“ verwundet wurde. Das einschneidende Erlebnis seiner schweren Verwundung beschreibt er hingegen sehr präzise in der Landsersprache:

Ich habe damals viel Blut verloren. Ich weiß noch, dass mir Sanitäter helfen wollten. Sobald sie jedoch in meine Nähe kamen, wurden sie vom Feind, dem Russen, unter Beschuss genommen. Schließlich fuhren unsere Panzer auf und beschossen das Mündungsfeuer der russischen Soldaten. Ich konnte dann abtransportiert werden.“

Obwohl er nun nach seiner Verwundung aus dem Kampfgetümmel an der Front ins Lazarett kam und letztlich in Auschwitz landete, endet der „seinerzeit“ gefertigt Papierschnipsel mit der ungenauen Beschreibung einer Verwundung „im Raum Kiew“.

Aus den in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Dokumenten der WAST ist als Ort der Verwundung PUSTOWOITOWKA festzustellen,

ein Ortsname in deutscher Schreibweise, der heute in der ukrainischen Schreibweise PUSTOVIITIVKA lautet und 240 km östlich von Kiew liegt.

Nun fährt der Angeklagte nach eindrücklicher Beschreibung des russischen „Mündungsfeuers“, das von „unseren Panzern“ beschossen wurde, fort wie folgt:

„Ich konnte dann abtransportiert werden. Ich wurde in ein nahegelegenes Lazarett verbracht. Dieses Lazarett lag in der Nähe von Radom. Dort wurde ich erstbehandelt.“

Er sagt nicht „in Radom“. Er sagt „in der Nähe von Radom“.


Verlässt man sich auf die Angaben des Angeklagten wird man „Radom“ in der Nähe von Kiew oder eigentlich in der Nähe von PUSTOVIITIVKA vermuten.

Tatsächlich liegt Radom aber 960 km weit westlich von PUSTOVIITIVKA südlich von Warschau.

Warum der Angeklagte seine Erstbehandlung in der fernen Ukraine in das angeblich „nahegelegene Lazarett“ Radom verlegt ergibt sich aus dem nachfolgenden Satz seiner Einlassung:

„Vom Feldlazarett in Radom wurde ich dann in das Krankenhaus nach Kattowitz verbracht.“ – Radom liegt tatsächlich nur noch 230 km von Kattowitz entfernt. Und wie wir alle wissen, liegt Kattowitz nur circa 35 km nördlich von Auschwitz.

Der Angeklagte will uns also vermitteln, dass in dem Lazarett Radom nach „Erstbehandlung“ die Operation zur Entfernung des Granatsplitters nicht erfolgte, weil diese für die Ärzte im Lazarett der „Erstbehandlung“ zu schwierig gewesen sei. Denn auch für die Ärzte im Kattowitzer Krankenhaus soll es offenbar eine enorm schwierige Operation gewesen sein. Der Angeklagte erklärte deshalb:

„Ich wurde später dort – also in Kattowitz – am Kopf operiert, der Granatsplitter konnte schließlich entfernt werden. Die Operation gestaltete sich jedoch insofern schwierig, als dass der Granatsplitter ziemlich tief in der Schläfe steckte. Wie man mir später berichtete, trauten sich die Ärzte zunächst nicht, die Operation durchzuführen.“

Die Versorgung des schwer verwundeten SS-Mannes Hanning folgte allerdings tatsächlich vollkommen anderen Wegen und endete keinesfalls in Kattowitz. Das ergibt sich aus den Dokumenten der WAST, die Gegenstand der Beweisaufnahme waren.

Nach der schweren Verwundung während des Gefechts bei PUSTOVIITIVKA am 20.09.1941 als Angehöriger der 6. Kompanie des SS-Regiments „Der Führer“ und nach Erstversorgung auf einem Verbandsplatz der Kampfeinheit wurde Hanning am 22.09. in das Feldlazarett 615 mot. in Konotop – 66 km nördlich des Gefechtsortes – unter der laufenden Krankenbuchnummer 361 eingeliefert. Von dort wurde er am 24.09. in das „rückwärtige“ Feldlazarett mot. 623 in Nowhorod – weitere 100 km nördlich – unter der laufenden Krankenbuchnummer 1090 verlegt. Einen Tag später am 25.09. erfolgte weitere Verlegung per Bahntransport in das Feldlazarett mot. 6/582 in Gomel – weitere 220 km westlich – unter der laufenden Krankenbuchnummer 2481. Schließlich erfolgte am 03.10.1941 die Verlegung in das Ersatz- und Kriegslazarett Radom – 760 km weiter westlich – unter der laufenden Krankenbuchnummer 225.

Nun ist der Angeklagte über insgesamt drei Feldlazarette in ein zentrales Ersatz- und Kriegslazarett transportiert worden, um ihn dort zu operieren und die Heilung der Verletzungen zu ermöglichen. Ersichtlich ist das Kriegslazarett Radom in einer Großstadt mit damals 100.000 Einwohnern in mehr als 1000 km Entfernung vom Ort der Kampfhandlung nicht ein im Bereich Kiew nahegelegenes Lazarett, wie es der Angeklagte und seine Verteidiger uns glauben machen wollen.

Verletzungen durch Granatsplitter auf Grund Verwendung von Handgranaten wurden zu jener Zeit zahlreich in Feldlazaretten und eben auch in den größeren Kriegslazaretten aber nicht in Allgemeinen Krankenhäusern operiert, auch nicht im Krankenhaus Kattowitz.

Warum um alles in der Welt erzählt uns Hanning eine solche Geschichte, nachdem die Dokumente der WAST vom Zeugen Willms vorgestellt worden sind?

Nach insgesamt vier Wochen im Ersatz- und Kriegslazarett Radom wurde der Angeklagte aus dem Lazarett entlassen und zur 1. Kompanie des Ersatzregiment SS „Der Führer“ nach STRALSUND versetzt. Nun war Hanning als Angehöriger des SS Regiment „Der Führer“ wieder dort, wo er zu Beginn seiner SS-Dienstzeit war, als er in Graz der gleichen Ersatzeinheit angehörte und dort ausgebildet wurde. Die Ersatzeinheit wurde im Spätsommer 1941 von Graz nach Stralsund verlegt.

Das Ergebnis dieser Geschichte ist in aller Kürze die Versetzung Hannings als einem im Fronteinsatz bewährten Angehörigen der Waffen-SS nach Auschwitz. Zeitgleich mit ihm wurden auch einige Kameraden vom Ersatz SS-Regiment „Der Führer“ von Stralsund nach Auschwitz versetzt, die zuvor gleichfalls im Fronteinsatz des Regiments waren.

Das ist die vom Sachverständigen Dr. Hördler so bezeichnete „Kohorte“ von deutschen fronterfahrenen SS-Männern, die gemeinsam mit dem späteren Chef der 3. Kompanie Otto Stoppel das Rückgrat der aus mehrheitlich Volksdeutschen SS-Männern bestehenden Wachkompanie bildeten. Es waren dies Johann Behrendt, Heinz Conrad und Mirauslaus Klement, die mit Hanning im SS-Regiment „Der Führer“ am Russland-Feldzug bis in die Ukraine teilnahmen und gemeinsam vom Ersatz-Bataillon in Stralsund am 24.01.1942 nach Auschwitz versetzt wurden, um ab 8. Juni 1942 zu Unterführern der 3. Kompanie befördert zu werden. Otto Stoppel brachte dies im Zusammenwirken mit seinen fronterfahrenen Unterführern bei der „Durchführung kriegswichtiger Sonderaufgaben“ mit der 3. Kompanie, wie die Aufgabe zur Beteiligung am Massenmord in Auschwitz genannt wurde, das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern ein.

Der Massenmord an den Juden wurde damals als rational begründbare, notwendige Maßnahme bei der Erneuerung Europas unter deutscher Herrschaft beschrieben. Die SS-Kommandeure erhielten Lob für gezeigte Härte im Angesicht des Mordens und die Versicherung, sie seien dabei „anständig geblieben“. So erklärte es Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vom 6. Oktober 1943.

Diese sich aufdrängenden Gedanken wurden von Oskar Gröning in Lüneburg inhaltlich mit eigenen Worten bestätigt. Das war auch die Überzeugung der Unterführer in Auschwitz. Nur der Angeklagte Hanning macht einen weiten Bogen um die geringste Nähe zu dieser Gedankenwelt.

Es gäbe noch zahlreiche zu hinterfragende und zu analysierende Schilderungen des Angeklagten, in denen er sich selbst lediglich als interessierten Spaziergänger von Auschwitz „nach Dienstschluss“ beschreibt, obwohl er zwei Jahre als Unterführer die Aufgabe erfüllte, die volksdeutschen SS-Wachmänner der 3. Kompanie im „Herzzentrum“ der Mordmaschinerie tagtäglich zu führen.

Oder er beschreibt detailreich seine Aufgaben als UvD (Unteroffizier vom Dienst) mit geradezu lächerlichen formalaufgaben, der als rechte Hand des Spieß im 3-Bett-Zimmer untergebracht wurde. Zugleich erzählt er von höchstens 3 oder 4 Soldaten – und meint SS-Wachmänner, mit denen er als „Zugführer“ Gefangene im Arbeitskommando bewachte. Im „Kreis“ hätten seine 3 bis 4 Soldaten die Gefangenen umstellt. Auch der Nicht-Soldat wird sich nur schwer vorstellen können, wie 3 oder 4 Wachmänner einen Kreis bilden. Wenn man hingegen weiß dass eine Kompanie von 100 bis 120 Mann 3 oder 4 Züge mit je 30 bis 40 Mann hat und er sich selbst als „Zugführer“ bezeichnet, wird ein „Kreis“ der von ihm geführten Wachleute eher vorstellbar – und zwar mit 30 oder 40 Mann des von ihm geführten Zuges der 3. Kompanie.

Auch das 4-Mann-Zimmer macht dann einen Sinn als sog. „Unterführerstube“, in welchem die „Zugführer“ als Rückgrat der Kompanie untergebracht waren.

Insoweit will ich auf nähere Untersuchung verzichten. Der Gesamteindruck bleibt: Eine Einlassung, die in entscheidenden Bereichen so wenig Substanz hat und die Distanz eines unbeteiligten Zuschauers aufweist, ist nicht glaubwürdig.

Aus der Sicht der Nebenkläger wird der Versuch unternommen, sich mit untauglichen Mitteln aus jeglicher Verantwortung heraus zu reden und heraus zu stehlen.

Nun spreche ich noch kurz zu einem Ausschnitt des damaligen PRIVATLEBENS des Angeklagten und schlage dabei den Bogen zu MAX EISEN im Mai 1944.

Einen Tag vor Dienstantritt in Sachsenhausen am 14.06.1944 hat sich der Angeklagte nach seinen Angaben gegenüber dem Rasse- und Siedlungshauptamt am 13. Juni mit Genoveva Hajduga verlobt, die als nicht ehelich geborene Polin am 04.11.1944 in die Deutsche Volksliste aufgenommen wurde und so die deutsche Staatsbürgerschaft auf Widerruf erhielt.

Der gemeinsame Sohn Richard wurde am 12. Februar 1945 geboren.

Ausgehend von einer Schwangerschaftsdauer mit 268 Tagen und der Geburt des Sohnes Richard am 12.02.1945 war Hanning und seiner künftigen Ehefrau die seit etwa 20.05.1944 bestehende Schwangerschaft zur Zeit der Verlobung am 13.06.1944 und des nachfolgenden Dienstantritts in Sachsenhausen bekannt.

Bei einem nahe bevor stehenden Geburtstermin hat Hanning am 12.01.1945 unter Hinweis auf seine Kriegsverwendungsfähigkeit und die Gefahr der Frontversetzung vom Rasse- und Siedlungshauptamt die Heiratspapiere mit großer Dringlichkeit erbeten. Er beschrieb dabei die Schwangerschaft als „fortgeschritten“ und bereits in den letzten „zwei Wochen“ sich befindend. Neun Tage später am 21.01.1945 – und somit drei Tage nach Beginn der Todesmärsche von Auschwitz – schrieb Hanning nochmals an das Rasse- und Siedlungshauptamt: „ … Falls sie meine Heiratsgenehmigung noch nicht eingesandt haben, bitte ich dieselbe wegen Evakuierung meiner zukünftigen Ehefrau nicht an meine Braut zu senden, sondern an mich“. – Er verweist auf seine Anschrift als Unterscharführer in der 8. Kompanie des SS-Totenkopf-Wachbataillon KZ Sachsenhausen.

Nun von mir eine eher persönliche Bemerkung, der auch ich in einem dieser Auschwitzjahre geboren bin:

Herr Hanning, während die Familie von Max Eisen am Donnerstag den 18. Mai 1944 in Auschwitz ankam waren sie als junger Mann weit weg vom Stahlgewitter der Ostfront „in Sicherheit“ und – so hoffe ich – bis über beide Ohren verliebt. Ihre Genovefa lebte nur gut 20 km von Auschwitz entfernt.

Ihre Freundin wurde schwanger. „Lege artis“ kann man Samstag den 20. Mai als Beginn der Schwangerschaft berechnen. Das war vor 72 Jahren. Und als Sie gut drei Wochen später dem Marschbefehl nach Sachsenhausen zu folgen hatten, verlobten Sie sich offiziell am Tag vor Abmarsch. Sie stehen zu Ihrer Verlobten und Ihrem Kind. Sie sorgen dafür, dass Ihre Verlobte die deutsche Staatsbürgerschaft bekommt und heiraten sie. Sie schafft es offenbar, noch rechtzeitig vor der Ankunft der Roten Armee evakuiert zu werden.

Das waren für Sie doch sehr „glückliche Umstände“.

Stimmen sie zu??

Es ist das krasse Gegenteil von jenem Schicksal der Menschen und ihren Familien, die hier als Zeugen aussagten. Max Eisen berichtet, wie seine kleine Schwester Judit mit 9 Monaten am 18. Mai – also auch vor 72 Jahren – bereits leblos in den Armen der Mutter lag, als sie diese an der Rampe für immer aus dem Leben verlor. Judit Eisen wäre 1 ½ Jahre älter als Ihr Sohn Richard Hanning, wenn sie als Baby damals nicht ermordet worden wäre.

Sie standen als mit verantwortlicher Unterführer der Wachmannschaften der 3. Kompanie Max Eisen und seiner Familie in jenen Tagen des Mai 1944 gegenüber.

Sie und Ihre Frau Genoveva durften gemeinsam mit Ihrem Sohn Richard überleben.

Wie schön wäre es, wenn Sie doch noch zu einer sachlichen Ehrlichkeit finden könnten und jene romantisierende SS-Haltung, in diesem Inferno „sauber geblieben“ zu sein, überwinden könnten.

Sie haben das „Letzte Wort“!

Übernehmen Sie doch jedenfalls heute Verantwortung für Ihre Überzeugungen von damals!

Sie haben das „Letzte Wort“!

Und stellen sie sich nicht als einen Unglücksfall dar, der nur versehentlich und ohne eigenes Zutun zur Waffen-SS und ebenso merkwürdig über ein angebliches Solahütten-Sanatorium nach Auschwitz kam, um dort als unbeteiligter Zaungast zuzuschauen.

Sie haben Ihre Familie durch Auschwitz gefunden. Durch Auschwitz haben Sie mit dem Segen der SS für Ihre Ehe auch Ihre junge Familie retten können.

Max Eisen und alle anderen haben ihre Familien zur gleichen Zeit in der perfekt durchorganisierten Mordmaschine von Auschwitz verloren.

Aber: …. Sie haben das „Letzte Wort“!

Ich sagte am Ende meiner einleitenden Gedanken zu Beginn:

Gerechtigkeit ist den Opfern geschuldet!

Ich sagte, dass in diesem Verfahren dafür sehr viel von den Verfahrensbeteiligten getan wurde und noch getan wird. Der Angeklagte hat sich im Rahmen seiner Erklärung nicht an dieser „Gerechtigkeit“ beteiligt.

Die von ihm selbst mündlich verlesenen Sätze lassen die persönliche Beziehung zum Unrecht vermissen und verweisen auf die SS als verbrecherische Organisation wie in den Nürnberger Prozessen festgestellt. Der Tod wird als Thema der SS-Verantwortung genannt, um das einzig zutreffende Wort vom „Mord“ strikt zu vermeiden.

Für ein Thema möchte ich noch Ihre Geduld erbitten. Darüber sprach ich vor wenigen Monaten in der Frauenkirche Dresden.

Gerechtigkeit ist den Opfern geschuldet!

Ich bezeichne diesen Satz als eine positive Aussage zum Unsagbaren – zum Chaos von höllischen Wirklichkeiten – und zum jahrzehntelangen Versagen der deutschen Justiz.

Ich rede von Gerechtigkeit. Und müsste doch eigentlich über das schreiende Unrecht sprechen, welches durch das Wegschauen der verantwortlichen Juristen in Justiz und auch in der Politik entstanden ist.

Suggeriere ich doch durch die Aussage, den Opfern sei etwas „geschuldet“, den Eindruck, dass den Opfern dies auch gewährt wird – indem gleichsam aus dem Füllhorn des „Rechts“ Gerechtigkeit strömt.

Gerechtigkeit ist ein Begriff, der im Leben verankert ist. Das Wort bedeutet den geistigen Austausch zwischen Menschen über reale Lebensumstände. Diese Gerechtigkeit schafft in Frieden und geistiger Vielfalt einen Zustand des Ausgleichs. Verletzungen und Unrecht werden beim Namen genannt und in das Erinnerungsprofil unserer Mit-Welt eingebrannt.

Und nun spreche ich von den Opfern – von den Opfern des Menschheitsverbrechens, denen diese Gerechtigkeit widerfahren soll.

Wie kann denn ungezählten Toten „Gerechtigkeit“ zuteil werden?

Wir haben in diesem Prozess erkannt, dass die Menschen im Alter von 13 oder 14 oder mit 18 oder 20 in Auschwitz aufhörten allein Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern in ihren Familien zu sein – wie wir alle es auch heute sind. Bis zu diesem Moment auf der Rampe von Auschwitz waren sie wie ich „Sohn meiner Eltern“ und Bruder meines Bruders.

Sie waren „Lebende“ wie wir und wurden zu „Über-Lebenden“ gemacht, weil Väter, Mütter, Geschwister grausamst in den Tod getrieben wurden. Vergast. Zu Asche verbrannt. In die Sümpfe und Flüsse gekippt – zum Düngen von Feldern verstreut.

Wir hören ihnen zu.

Wir wenden uns ihnen zu.

Und sie sprechen davon, was sie erinnern.

Nichts ist gleich.

Und doch:

Aller Schmerz ist gleich.

Jeder Überlebende hat sein eigenes Auschwitz. Am Hinterausgang der Hölle in diversen Sklavenlagern, wo sie nach Ewigkeiten als junge Menschen von den Alliierten befreit wurden, waren sie alte Männer und alte Frauen mit einem Maß an Leiderfahrung, das alle menschlichen Maßstäbe sprengte. Die Leid- und Schmerzerfahrung war so unermesslich, dass jener Schmerz an der Grenze des Messbaren und der fernsten Peripherie menschlicher Vorstellungskraft angesiedelt ist. So ist dieser ultimative Schmerz schließlich – so sehr „gleich“ – und zugleich „unermesslich“.

Und dennoch trägt jeder und jede der Überlebenden das ganz „eigene Auschwitz“ in sich. – Und nur in sich!

Und im intensiven Zuhören – ohne innere oder äußere Ungeduld öffnet sich schließlich eine Tür, durch die wir etwas erkennen, was uns eine überraschende Erkenntnis vermittelt. – Haben wir uns nicht alle hin und wieder die Frage gestellt:

„Wie haben es die Menschen ausgehalten mit diesen schrecklichsten aller denkbaren Lebenserfahrungen der Vernichtung weiter zu leben, ohne auf Dauer den Bezug zu einer eigenen positiven Lebenshaltung und Lebensführung zu verlieren?“

Das ist die Frage der ich das Ende meiner Ausführungen widmen möchte.

Im Fluss des Erinnerns der Überlebenden beginnen Bilder zu entstehen, die oft in die Kindheit weit zurück reichen, als sie noch in Frieden ohne Verfolgung in ihren heilen Familien lebten. Erkennbar wehmutsvoll und doch in glücklicher Erinnerung werden die eigenen Sinne zurück in Kindertage gelenkt. Es beginnen Worte sich als Bilder zu verdichten. Vater und Mutter werden mit Worten gezeichnet und mit lebendigem Leben erfüllt. Die zärtliche Liebe zu den Geschwistern ist mit Händen zu greifen. Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten gehen ein und aus im „Haus der Erinnerung“. Manche erinnern noch den Geruch der Mutter oder des Vaters. Gerüche werden mit Worten modelliert.

Diese Worte haben wir erlebt in den Zeugen vor Gericht und wir konnten spüren, wenn wir intensiv zuhörten, wie wir selbst die Gestalt und Identität der Ermordeten in ihrem früheren Leben noch deutlich erahnen, begreifen und erkennen können – bevor der Schlund der Hölle von Auschwitz sie empfingen.

Das Mensch-Sein der Opfer, das „Sein“ von Eltern, Geschwistern und ihren Großfamilien erfahren wir in diesen Begegnungen.

Das was wir diesen Menschen in einem Gerichtsverfahren zurückgeben können, ist die Würde ihres Ichs, das ist die Identität und Stimme aus Zeiten des Lebens – ohne lähmende Todesangst.

Ich stellte fest und nenne abschließend einige Beispiele dafür, dass die

Gerechtigkeit für die Opfer durch die Antithese der Liebe zum Hass entsteht.

 Die Überlebenden haben gesprochen.

Der Ausdruck ihrer Liebe ist vielfältig.

Und es sind die Gesichter der Nebenkläger als Zeugen vor Gericht, die unserer Gegenwartsgesellschaft dabei in die Augen schauen.

Diese Gesichter wollten auch Ihnen, Herr Hanning, in die Augen schauen.

Das dominante Gefühl dieser Menschen ist ihre sehnsuchtsvolle Liebe zu ihren Liebsten, die vom Hass einer perfekt organisierten Mordmaschinerie in Asche verwandelt wurden.

Und nur durch die stabile Entwicklung dieser Gefühlsebene haben so viele Überlebende eine Antithese zu jenem zerstörenden Hass entwickeln können.

Wir können es immer wieder vor Gericht erleben, dass Menschen auf diesem Weg ihren ermordeten Liebsten ein eigenes inneres Denkmal setzen.

Im Demjanjuk Verfahren hatte ein Nebenkläger unter Tränen im Gerichtssaal es nicht geschafft, einen letzten Brief, den er besaß aus den eigenen Händen in die Hände des Richters für einen sog. „Augenschein“ zu legen, weil es das „Letzte“ ist, was er besaß.

So sprach seine Liebe.

Ernest Ehrmann, ein Nebenkläger in diesem Verfahren von Detmold hat vor mehr als einem Jahr in Montreal nach herzzerreißenden langen Gesprächen mit mir es unter Tränen ausgeschlossen, das unter Glas gerahmte Foto seiner ermordeten Familie aus dem Rahmen zu nehmen, weil er vollkommen realistisch die Gefahr sah, dass es danach in Staub zerfallen könne.

So sprach seine Liebe.

Bill Glied spricht von jener Demütigung seines Vaters auf der Lagerstraße in Auschwitz, als dieser schwerst geschlagen wurde, weil er einen SS-Offizier nicht in Unterwürfigkeit grüßte und sich nach brutalsten Schlägen – blutend, … demütig entschuldigte.

Über 70 Jahre später leidet der damals 13 jährige Sohn heute noch grenzenlos unter dem zerbrechenden Bild eines verprügelten Vaters.

So spricht seine Liebe.

Der 94 jährige Leon Schwarzbaum zeigt dem Gericht das Familienfoto mit seinen Eltern aus Będzin, der Stadt seiner Jugend, nur 50 km nördlich vom Ort des Todes in Auschwitz. Mit 94 ist er auf seine Eltern so unendlich stolz wie damals, als das Foto entstand.

So spricht seine Liebe.

Erna de Vries lebte ihr Leben unter dem Leitmotiv: „Ich lasse meine Mutter nicht allein“. Als eine – nach Nazijargon – sog. „Halbjüdin“ war sie nicht nach Auschwitz verdammt. Dennoch wählte sie den Weg mit ihrer Mutter nach Auschwitz, wissend was dort geschah. Nur wenige Minuten vor den Toren der Gaskammer wurde sie doch noch aus der Masse der zu Tötenden „selektiert“.

Als „Mischling“ sollte sie nun doch leben und Sklavenarbeit für Siemens leisten. Die Lebenstreue einer Tochter zu ihrer Mutter bis in den Tod.

So spricht ihre Liebe.

Ich komme zum Schluss:

Der Angeklagte ist wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen. Die Höhe der Strafe zu bestimmen wird Aufgabe des Gerichts sein und mein Kollege Herr Professor Dr. Nestler wird sich noch zur Schwere seiner Tatbeteiligung äußern.

Allerdings möchte ich selbst zu einem Aspekt der Strafzumessung, der als Strafmilderung von der Staatsanwaltschaft mit wenigen Worten dem Angeklagten zugebilligt wurde, noch eine kritische Anmerkung machen.

Das betrifft den angeblich vorliegenden Strafmilderungsgrund der „Reue“.

In meinem früheren Berufsleben als Richter ist mir die „Reue“ von Angeklagten in einer Vielzahl von Verfahren begegnet. In den meisten Fällen bestand auf sehr natürliche Weise eine folgerichtige Anknüpfung an ein umfassendes Geständnis. Ein Fall, in welchem der Angeklagte die Rolle eines qualifizierten Zuschauers bei Straftaten von unbekannten Dritten eingenommen hat und sodann ausdrücklich von „Reue“ sprach, erinnere ich nicht.

Hanning bereut, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben. Hanning steht aber nicht wegen Mitgliedschaft in der SS vor Gericht. Er betont, dass diese Organisation für den Tod vieler unschuldiger Menschen verantwortlich ist. Selbst jetzt spricht Hanning nur vom „Tod“ und nicht vom „Mord“, den allein die SS als „Organisation“ zu verantworten habe.

Dieses „Bereuen“ halte ich in Verbindung mit dem Inhalt seiner nichtssagenden schriftlichen Erklärung für eine Farce und eher für die Fortsetzung des „Schweigens“, weil diese Erklärung lediglich der Verschleierung der wahren Abläufe und eigenen Verantwortlichkeiten dient.

Ich kann nur nachdrücklich dem Angeklagten versichern, dass diese sogenannte „Reue“, die er am 29. April hier vor Gericht vortrug, den klassischen Strafmilderungsgrund der „Reue“ nicht erfüllt.

Die dadurch von der Staatsanwaltschaft angenommene Strafmilderung wird für den Fall einer Verurteilung des Angeklagten nicht zum Tragen kommen.

Wenn der Angeklagte sich wirklich noch die realistische Basis für eine spürbare Strafmilderung schaffen möchte, hat er allein noch mit seinem „Letztes Wort“ die Gelegenheit dazu, die er nutzen sollte.

Er hat immer noch die Chance, seine tatsächliche innere und äußere Beteiligung an den Verbrechen in einer Weise zu schildern, dass sich das Wort „Reue“ in den Ohren der Nebenkläger nicht als Fortsetzung der Unbelehrbarkeit und der Leugnung jeglicher Eigenverantwortung darstellt.

Das Gericht wird sich auch einer so späten wirklichen Reue nicht verschließen.

Nur dann wird er wohl mit einer wirklichen Strafmilderung im Urteil rechnen können.

Thomas Walther

Rechtsanwalt

Detmold 27. Mai 2016