Beschluss des 3. Strafsenats des BGH vom 20.09.2016 im Strafverfahren gegen Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz (Az.: 3 StR 49/16)

(…)

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 20. September 2016 gemäß § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 15. Juli 2015 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den nicht revidierenden Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

(1) Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

(2) I. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

(3) Der Angeklagte hatte sich im Oktober 1940 als „überzeugter Nationalsozialist“ freiwillig zur SS gemeldet, um dieser aus seiner damaligen Sicht „ruhmreichen Elite-Kaste“ anzugehören. Da er nicht den an der Front kämpfenden Truppen der SS zugewiesen werden wollte, war er seinem Wunsch entsprechend zunächst in verschiedenen Besoldungsstellen der SS als „Zahlmeister“ eingesetzt worden. Im September 1942 wurde er schließlich im Rang eines „SS-Sturmmannes“ zum Konzentrationslager Auschwitz versetzt, um dort bei der Realisierung der „Aktion Reinhard“ mitzuwirken.

(4) Diese nach dem Leiter des „Reichssicherheitshauptamtes“ Reinhard Heydrich benannte Aktion war Teil der Umsetzung der spätestens Anfang 1942 von den nationalsozialistischen Machthabern beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“ durch systematische Tötung aller europäischen Juden im deutschen Einflussbereich und richtete sich gegen die jüdische Bevölkerung im besetzten Polen sowie der Ukraine. Die dort lebenden Juden sollten ausnahmslos deportiert und in den von der SS geleiteten sowie betriebenen Konzentrationsund Vernichtungslagern getötet werden, entweder unmittelbar nach ihrer Deportation oder im Wege der „Vernichtung durch Arbeit“. Diesem Zweck dienten insbesondere die in Belzec, Treblinka und Sobibor errichteten Vernichtungslager sowie das Konzentrationslager Auschwitz.

(5) Das Konzentrationslager Auschwitz war zunächst in einem Komplex ehemaliger Kasernengebäude errichtet worden (sog. Stammlager bzw. „Auschwitz I“). Das „Stammlager“ bestand aus dem sog. Schutzhaftlager sowie Verwaltungsgebäuden, in denen unter anderem die sog. Häftlingseigentumsverwaltung und – als deren Unterabteilung – die „Häftlingsgeldverwaltung“ ihren Sitz hatten. Es war bereits ab Oktober 1941 durch einen weitaus größeren Lagerkomplex in dem etwa drei Kilometer entfernten Dorf Birkenau erweitert worden („Auschwitz II“). Im Rahmen der „Aktion Reinhard“ wurde um die Jahreswende 1942/43 das Lager Auschwitz-Birkenau endgültig zum Vernichtungslager umfunktioniert, indem neben den anfangs in zwei ehemaligen Bauernhäusern provisorisch eingerichteten Gaskammern vier große Gaskammern mit angeschlossenen Krematorien gebaut wurden, die im Laufe des Jahres 1943 in Betrieb genommen wurden, sodass schließlich pro Tag bis zu 5.000 Menschen getötet und verbrannt werden konnten.

(6) Anfang März 1944 begann die SS damit, nach dem Vorbild der „Aktion Reinhard“ die Vernichtung der in Ungarn lebenden jüdischen Bevölkerung (sog. Ungarn-Aktion) einzuleiten. Nachdem eine als „Kommando Eichmann“ bezeichnete Gruppe von SS-Angehörigen bereits am 10. März 1944 speziell für die Vorbereitung dieses Vorhabens nach Ungarn gereist war, wurden die dort lebenden Juden nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen am 19. März 1944 in Ghettos zusammengetrieben und schließlich in der Zeit vom 16. Mai bis zum 11. Juli 1944 mit Zügen nach Auschwitz deportiert, um dort in gleicher Weise systematisch getötet zu werden wie die zuvor von der „Aktion Reinhard“ betroffenen Juden.

(7) In Auschwitz-Birkenau hatte die SS die „Ungarn-Aktion“ dadurch vorbereitet, dass ein neues Bahnanschlussgleis verlegt worden war, das im Gegensatz zu dem früher genutzten (sog. alte Rampe) innerhalb des Lagers endete und sich dort in drei Gleise auffächerte (sog. neue Rampe). Infolgedessen konnten die Züge mit den Deportierten nur wenige hundert Meter von den Gaskammern entfernt „entladen“ werden. Im Übrigen entsprachen die Abläufe im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ denjenigen bei der „Aktion Reinhard“:

(8) Die für die „Abwicklung“ eines Transports eingeteilten Lagerangehörigen trieben die Deportierten aus den Waggons heraus und wiesen sie an, ihr Gepäck auf der Rampe stehen zu lassen. Um ihre Arglosigkeit aufrechtzuerhalten, teilten sie ihnen wahrheitswidrig mit, dass ihnen das Gepäck nachgebracht werde. Sodann trennte man die Deportierten nach Geschlechtern und trieb sie einem SS-Lagerarzt zu, der die sog. Selektion vornahm, indem er nach dem äußeren Eindruck und kurzer Befragung (insbesondere zu Alter und Beruf) darüber entschied, wer als „arbeitsfähig“ oder „nicht arbeitsfähig“ anzusehen sei. Die „Arbeitsfähigen“ wurden in das Lager eingewiesen und anschließend zur Zwangsarbeit eingesetzt, um auf diese Weise der „Vernichtung durch Arbeit“ zugeführt zu werden, alle anderen – durchschnittlich jeweils etwa 80 bis 90 Prozent – wurden direkt zu den Gaskammern geleitet. SS-Angehörige erklärten ihnen wahrheitswidrig, dass es „zum Duschen“ gehe. Unmittelbar vor den Gaskammern befand sich ein Raum, der wie ein Umkleideraum gestaltet war. Dort wiesen die SS-Angehörigen die Deportierten an, sich vollständig zu entkleiden. Sie forderten diese – wiederum in der Absicht, ihre Arglosigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten – auf, sich die Stelle, an der sie ihre Kleidung abgelegt hatten, genau zu merken, damit sie ihre Sachen „nach dem Duschen“ wiederfänden. Anschließend trieben sie sie in die Gaskammern, wo sie mittels des Schädlingsbekämpfungsmittels „Zyklon B“ (Cyanwasserstoff, „Blausäure“) qualvoll getötet wurden.

(9) Im Verlauf der „Ungarn-Aktion“ kamen 141 Züge mit rund 430.000 aus Ungarn deportierten Menschen in Auschwitz an. Weil die zur sofortigen Tötung bestimmten Opfer dort nicht registriert wurden, konnte das Landgericht deren genaue Zahl nicht feststellen; zugunsten des Angeklagten ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass zumindest 300.000 der Deportierten sofort getötet wurden.

(10) Das auf der Rampe zurückgelassene Gepäck der Deportierten entfernten sogenannte „Funktionshäftlinge“ jeweils vor dem Eintreffen des nächsten Transportzuges und durchsuchten es nach Geld sowie Wertgegenständen. Beides brachten sie zwecks weiterer Verwertung zur „Häftlingseigentumsverwaltung“.

(11) Dem Angeklagten war nach seiner Versetzung zum Konzentrationslager Auschwitz eine Stelle in der „Häftlingsgeldverwaltung“ zugewiesen worden. Er war zwischenzeitlich zum „SS-Unterscharführer“ befördert worden und in die „Ungarn-Aktion“ in gleicher Weise eingebunden wie in die „Aktion Reinhard“. So versah er während der „Ungarn-Aktion“ an mindestens drei nicht mehr näher feststellbaren Tagen – uniformiert und mit einer Pistole bewaffnet – den sog. Rampendienst an der „neuen Rampe“. Dabei hatte er in erster Linie die Aufgabe, während der Entladung der in Auschwitz ankommenden Züge das auf der Rampe abgestellte Gepäck zu bewachen und Diebstähle zu verhindern. Diebstähle von SS-Angehörigen waren in Auschwitz zwar an der Tagesordnung, und die Taten wurden zumeist auch nicht verfolgt, weil den Tätern ein Teil der „Beute“ stillschweigend zugestanden wurde, um die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. An der Rampe sollte jedoch unbedingt verhindert werden, dass das Gepäck – vor den Augen der Deportierten – geöffnet, durchsucht und geplündert wurde, um deren für den weiteren Ablauf der Selektion und Vergasung für unerlässlich gehaltene Arglosigkeit nicht zu gefährden und Unruhe zu verhindern. Zugleich war der Angeklagte bei der Ausübung seiner „Rampendienste“ auch Teil der Drohkulisse, die jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht bereits im Keim ersticken sollte.

(12) Neben den „Rampendiensten“ hatte der Angeklagte im Rahmen seiner Tätigkeit in der „Häftlingsgeldverwaltung“ die Aufgabe, das Geld der Deportierten nach Währungen zu sortieren, zu verbuchen, zu verwalten und nach Berlin zu transportieren. Dort lieferte er es in unregelmäßigen Abständen entweder bei dem „SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt“ ab oder zahlte es unmittelbar auf ein Konto der SS bei der Reichsbank ein. Überdies oblag es dem Angeklagten während seiner Diensttätigkeit jederzeit, die Deportierten zu überwachen und Widerstand oder Fluchtversuche nötigenfalls mit Waffengewalt zu unterbinden.

(13) Dem Angeklagten waren die Abläufe im Konzentrationslager Auschwitz schon seit seiner Beteiligung an der „Aktion Reinhard“ in allen Einzelheiten bekannt. Er wusste insbesondere, dass die nach Auschwitz deportierten Juden dort massenweise unter bewusster Ausnutzung ihrer Arg- und Wehrlosigkeit qualvoll getötet wurden. Ihm war ebenfalls bewusst, dass er die in Auschwitz betriebene Tötungsmaschinerie durch seine Tätigkeiten unterstützte. Er nahm dies indes zumindest billigend in Kauf, um nicht zu den kämpfenden SSEinheiten an die Front versetzt zu werden.

(14) II. Die Verfahrensrügen dringen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.

(15) III. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben.

(16) Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen (§§ 211, 27 StGB). Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass im Konzentrationslager Auschwitz während der „Ungarn-Aktion“ mindestens 300.000 Menschen heimtückisch und grausam getötet wurden. Die Annahme der Strafkammer, wonach der Angeklagte zu allen diesen Taten Hilfe geleistet hat, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

(17) 1. Die rechtliche Bewertung der Handlungen des Angeklagten bemisst sich nach den allgemeinen Grundsätzen. Danach gilt:

Hilfeleistung im Sinne des § 27 StGB ist – bei Erfolgsdelikten – grundsätzlich jede Handlung, welche die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt dieses Erfolges in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird, ist nicht erforderlich (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 8. März 2001 – 4 StR 453/00, NJW 2001, 2409, 2410 mwN). Beihilfe kann schon im Vorbereitungsstadium der Tat geleistet werden (vgl. BGH, Urteile vom 1. August 2000 – 5 StR 624/99, BGHSt 46, 107, 115; vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 389, jeweils mwN), selbst zu einem Zeitpunkt, in dem der Haupttäter zur Tatbegehung noch nicht entschlossen ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1952 – 3 StR 48/52, BGHSt 2, 344, 345 f.; Beschluss vom 8. November 2011 – 3 StR 310/11, NStZ 2012, 264); sie ist auch noch nach Vollendung der Tat bis zu deren Beendigung möglich (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 1952 – 1 StR 316/51, BGHSt 3, 40, 43 f.; Beschluss vom 4. Februar 2016 – 1 StR 424/15, juris Rn. 13, jeweils mwN). Sie kommt auch in der Form sog. psychischer Beihilfe in Betracht, indem der Haupttäter ausdrücklich oder auch nur konkludent in seinem Willen zur Tatbegehung, sei es auch schon in seinem Tatentschluss, bestärkt wird. Dies ist etwa der Fall, wenn dem Haupttäter Unterstützung bei der späteren Tatausführung oder der Verwertung der Tatbeute zugesagt wird (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. August 2002 – 4 StR 208/02, NStZ 2003, 32, 33; vom 1. Februar 2011 – 3 StR 432/10, NStZ 2011, 637).

(18) Wird die Tat aus einem Personenzusammenschluss – etwa einer Bande oder einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung – heraus begangen, so kann sie dem einzelnen Banden- oder Vereinigungsmitglied nicht allein aufgrund der von ihm getroffenen Bandenabrede oder seiner Zugehörigkeit zu der Vereinigung als eigene zugerechnet werden; es ist vielmehr hinsichtlich jeder Tat nach den allgemeinen Kriterien zu prüfen, ob sich das betreffende Mitglied daran als Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB), Anstifter (§ 26 StGB) oder Gehilfe (§ 27 StGB) beteiligt bzw. gegebenenfalls insoweit überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet hat (st. Rspr.; vgl. etwa zur Bande: BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 2003 – 3 StR 128/03, NStZ-RR 2003, 265, 267; vom 24. Juli 2008 – 3 StR 243/08, StV 2008, 575; vom 1. Februar 2011 – 3 StR 432/10, NStZ 2011, 637; zur Vereinigung: BGH, Beschlüsse vom 23. Dezember 2009 – StB 51/09, NStZ 2010, 445, 447 f.; vom 7. Februar 2012 – 3 StR 335/11, NStZ-RR 2012, 256, 257).

(19) Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn die strafrechtliche Bewertung von Handlungen in Rede steht, die im Rahmen von oder im Zusammenhang mit staatlich organisierten Massenverbrechen vorgenommen werden. Bei ihrer Anwendung dürfen jedoch die Besonderheiten nicht außer Betracht bleiben, die sich bei derartigen Delikten in tatsächlicher Hinsicht ergeben. Diese bestehen bei einer Tatserie wie dem systematischen Völkermord an den europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland darin, dass an jeder einzelnen bei dessen Verwirklichung begangenen Mordtat einerseits eine Vielzahl von Personen allein in politisch, verwaltungstechnisch oder militärischhierarchisch verantwortlicher Position ohne eigenhändige Ausführung einer Tötungshandlung beteiligt war, andererseits aber auch eine Mehrzahl von Personen in Befolgung hoheitlicher Anordnungen und im Rahmen einer hierarchischen Befehlskette unmittelbar an der Durchführung der einzelnen Tötungen mitwirkte. Bei der rechtlichen Bewertung von Handlungen eines – wie hier – auf unterer Hierarchieebene und ohne eigene Tatherrschaft in die organisatorische Abwicklung des massenhaften Tötungsgeschehens eingebundenen Beteiligten muss daher in den Blick genommen werden, dass zu jeder einzelnen Mordtat Mittäter auf mehreren Ebenen in unterschiedlichsten Funktionen sowie mit verschiedensten Tathandlungen zusammenwirkten und daher zu prüfen ist, ob die Handlungen des allenfalls als Tatgehilfe in Betracht kommenden Beteiligten die Tathandlung zumindest eines der an dem Mord täterschaftlich Mitwirkenden im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB gefördert haben.

(20) 2. Daran gemessen hat das Landgericht die Tätigkeiten des Angeklagten im Konzentrationslager Auschwitz rechtsfehlerfrei als Beihilfe zu den dort im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ begangenen Morden gewertet, bei denen die Opfer unmittelbar nach Ankunft und „Selektion“ in den Gaskammern getötet wurden.

(21) a) Dies gilt zunächst hinsichtlich der Opfer, bei deren Ankunft in Auschwitz-Birkenau der Angeklagte Rampendienste leistete. Insoweit bedarf es keiner näheren Erörterung, dass der Angeklagte den SS-Angehörigen, die durch die Selektion an der Rampe und die Ausführung der unmittelbaren Tötungshandlungen durch Einwerfen des „Zyklon B“ in die Gaskammern täterschaftliche Mordtaten verübten, in ihrem Tun im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB Hilfe leistete, indem er einerseits durch die Bewachung des Gepäcks dazu beitrug, die Arglosigkeit der Angekommenen aufrechtzuerhalten, und andererseits als Teil der Drohkulisse dabei mitwirkte, jeden Gedanken an Widerstand oder Flucht bereits im Keim zu ersticken.

(22) b) Aber auch bezüglich der Opfer, bei deren Eintreffen er keinen Rampendienst versah, hat sich der Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord strafbar gemacht. Zwar ist insoweit nicht festgestellt, dass die an der „Selektion“ beteiligten „Ärzte“ oder die die Tötungen eigenhändig ausführenden SS-Männer in ihrem unmittelbaren Tun durch die allgemeine Dienstausübung des abwesenden Angeklagten physisch oder psychisch unterstützt worden wären. Indes hat das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend darauf abgehoben, dass der Angeklagte durch seine allgemeine Dienstausübung in Auschwitz bereits den Führungspersonen in Staat und SS Hilfe leistete, die im Frühjahr 1944 die „UngarnAktion“ anordneten und in der Folge in leitender Funktion umsetzten bzw. umsetzen ließen (zur mittelbaren Täterschaft im Rahmen staatlicher Machtapparate vgl. etwa BGH, Urteile vom 26. Juli 1994 – 5 StR 98/94, BGHSt 40, 218; vom 4. März 1996 – 5 StR 494/95, BGHSt 42, 65; vom 8. November 1999 – 5 StR 632/98, BGHSt 45, 270). Dies ergibt sich aus Folgendem:

(23) Voraussetzung für die Anordnung und rasche Durchführung der Ermordung der aus Ungarn zu deportierenden Juden war das Bestehen eines organisierten Tötungsapparates, der auf der Basis seiner materiellen und personellen Ausstattung durch verwaltungstechnisch eingespielte Abläufe und quasi industriell ablaufende Mechanismen in der Lage war, in kürzester Zeit eine Vielzahl von Mordtaten umzusetzen. Zu diesem Tötungsapparat zählte das Konzentrationslager Auschwitz, insbesondere das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, mit dem dort für diese Zwecke diensttuenden Personal. Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte „industrielle Tötungsmaschinerie“ mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, waren die nationalsozialistischen Machthaber und die führenden SS-Funktionäre überhaupt in der Lage, die „Ungarn-Aktion“ anzuordnen und in der geschehenen Form auch durchführen zu lassen. Ihr Tatentschluss und ihre Anordnungen zur Umsetzung der Aktion waren daher wesentlich durch diese Voraussetzungen bedingt und wurden hierdurch maßgeblich gefördert.

(24) An dieser Tatförderung hatte der Angeklagte Anteil. Er war Teil des personellen Apparats, der schon zum Zeitpunkt des Befehls zur „Ungarn-Aktion“ in Auschwitz Dienst tat. Er war in die Organisation der Massentötungen eingebunden, indem er nach Dienstplan Aufgaben beim Eintreffen der Opfer an der Rampe wahrnahm und es ihm unabhängig hiervon durchgehend oblag, die Deportierten zu überwachen sowie Widerstand oder Fluchtversuche mit Waffengewalt zu verhindern. Letztlich war er darüber hinaus in die Verwertung der Vermögenswerte der Opfer eingebunden, durch die – sei es auch erst nach Beendigung der jeweiligen Mordtat – die SS aus den massenhaften Verbrechen noch Profit zog. Dass diese Funktionen im Konzentrationslager Auschwitz von dort tätigen Angehörigen der SS ausgefüllt wurden, war den Verantwortlichen bei Anordnung der „Ungarn-Aktion“ bekannt und war für ihren Tatentschluss sowie ihre entsprechenden Anordnungen und Befehle von grundlegender Bedeutung. Dass sie dabei den Angeklagten nicht persönlich kannten, ist rechtlich ohne Belang. Es genügt ihr Wissen, dass alle im Rahmen der Tötungsmaschinerie auszufüllenden Funktionen mit zuverlässigen, gehorsamen Untergebenen besetzt waren und dies eine reibungslose Umsetzung der „Ungarn-Aktion“ garantierte.

(25) All dies war nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe auch dem Angeklagten bewusst und wurde von ihm zumindest billigend in Kauf genommen. Er war schon kurz nach seinem Dienstantritt in Auschwitz über das dortige Geschehen in vollem Umfang informiert. Er fügte sich dennoch in seinem Bestreben, nicht an die Front versetzt zu werden, in die Organisation des Lagers ein und führte alle ihm erteilten Befehle aus. Daher war ihm klar, dass er durch seine Dienstausübung im Zusammenwirken mit anderen die Voraussetzungen dafür schuf, dass die Verantwortlichen in Staat und SS jederzeit eine in Auschwitz zu exekutierende Vernichtungsaktion beschließen und anordnen konnten, weil auf die dortige Umsetzung ihrer verbrecherischen Befehle Verlass war. Mehr ist für die Annahme eines Gehilfenbeitrags zu allen dem Angeklagten im angefochtenen Urteil zugerechneten Mordtaten aus der „Ungarn-Aktion“ in subjektiver Hinsicht nicht erforderlich.

(26) 3. Die unter 2. b) dargelegte Rechtsauffassung des Senats steht nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs.

(27) Allerdings hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 20. Februar 1969 (2 StR 280/67; abgedruckt bei Rüter/de Mildt, Justiz und NS-Verbrechen, Nr. 595b, Bd. XXI, S. 838 ff.; teilweise auch in NJW 1969, 2056) in anderem rechtlichen Zusammenhang (konkurrenzrechtliche Beurteilung von massenhaften Tötungen in durch große Zeiträume getrennten, wesentlich voneinander unterschiedenen und auf unterschiedlichsten Beweggründen beruhenden Tatkomplexen) ausgeführt, dass sich nicht „jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms tätig“ geworden sei, „objektiv an den Morden beteiligt“ habe „und für alles Geschehene verantwortlich“ sei (Unterstreichungen im Original). Denn dann wäre auch der Arzt, der zur Betreuung der Wachmannschaft bestellt war und sich streng auf diese Aufgabe beschränkt hat, der Beihilfe zum Mord schuldig. Das gälte sogar für den Arzt, der im Lager Häftlingskranke behandelt und sie gerettet hat. Nicht einmal wer an seiner Stelle dem Mordprogramm kleinere Hindernisse, wenn auch in untergeordneter Weise und ohne Erfolg, bereitet hätte, wäre straffrei (Rüter/de Mildt aaO, S. 882; NJW 1969, 2056 f.).

(28) Dem ist hier indes nicht näher nachzugehen; denn der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich deutlich von den vom 2. Strafsenat beispielhaft dargestellten Fallgestaltungen. Dem Angeklagten wird nicht „alles“ zugerechnet, was in Auschwitz geschah; vielmehr geht es um die Frage, ob und wie der Angeklagte für die im Rahmen des fest umgrenzten Komplexes der „Ungarn-Aktion“ durchgeführten Mordtaten strafrechtlich verantwortlich ist. Auch wurde der Angeklagte nicht „irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms“ tätig, sondern es sind konkrete Handlungsweisen des Angeklagten mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen in Auschwitz schon im Vorfeld, aber auch im Verlauf der „Ungarn-Aktion“ festgestellt; diese sind rechtlich zu bewerten. Für derartige Sachverhalte sieht sich der Senat vielmehr in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 2. Strafsenats (s. etwa Urteile vom 22. März 1967 – 2 StR 279/66, JZ 1967, 643 f.; vom 27. Oktober 1969 – 2 StR 636/68, juris Rn. 9 und 51 [insoweit in BGHSt 23, 123 nicht abgedruckt]), die dieser auch in seinem Urteil vom 20. Februar 1969 (Rüter/de Mildt aaO, S. 882; NJW 1969, 2056, 2057) nicht aufzugeben beabsichtigte.

(29) 4. Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob die vom Landgericht vorgenommene Bewertung der Unterstützungshandlungen des Angeklagten als eine einheitliche Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen (§ 52 StGB) zutreffend ist. Denn dass das Landgericht die Rampendienste des Angeklagten nicht als je tatmehrheitliche Beihilfehandlungen zum vielfachen Mord an den Opfern aus den entsprechenden Transporten bewertet hat, beschwert den Angeklagten hier jedenfalls nicht.

(…)

Werbung

Zeugenaussage im Prozess gegen Reinhold Hanning: Max Eisen, 18.02.2016

Mein Name ist Tibor Eisen, man nennt mich auch als Max. Ich sage hier heute als Zeuge der Gräueltaten, Schrecken und Entbehrungen aus, die ich in Auschwitz I und Auschwitz II-Birkenau vom Mai 1944 bis zum Januar 1945 erlebt habe. Ich bin am 15. März 1929 in Moldava nad Bodvou in der Tschechoslowakei geboren. Ein Jahr vor dem Krieg wurde das Gebiet, in dem ich lebte, Ungarn angeschlossen. Wie die meisten ungarischen Juden war ich vor der ‚Endlösung‘ der Nazis relativ abgeschirmt, bis zum letzten Kriegsjahr, als die Massendeportation der ungarischen Juden nach Auschwitz begann.

Ich war fünfzehn, als ich im Mai 1944 deportiert wurde – zusammen mit meiner ganzen Kernfamilie und den anderen 450 Juden, die in meiner Heimatstadt lebten. Man brachte uns zu einer Ziegelei in der Stadt Kassa (Košice). Von dort aus wurden wir in Viehwägen geladen. In jeden Wagon wurden ungefähr 100 Menschen gezwängt, und ich musste die gesamte, zwei Nächte und drei Tage lange Fahrt hindurch stehen. Es gab einen Eimer mit Wasser und noch einen zweiten, den wir als Gemeinschaftstoilette benutzten. Das Wasser war fast sofort aufgebraucht und der Eimer wurde nie nachgefüllt. Der andere Eimer schwappte bald über und die Brühe aus Urin und Kot floss über den ganzen Boden des Viehwaggons. Der Gestank, das körperliche Unbehagen, und all seiner Sinne derart beraubt zu sein – das war eine zutiefst entmenschlichende Erfahrung. Zwei Menschen starben in unserem Waggon und wir mussten ertragen, die Reise über ihre Leichen mitten unter uns zu haben. Ich konnte meine Mutter nicht sehen, die meine kleine Schwester Judit noch stillte. Meine beiden jüngeren Brüder konnte ich auch nicht sehen, weil sie zwischen den größeren Menschen verborgen waren. Wir waren voneinander getrennt, konnten nicht miteinander sprechen. Ich weiß noch, dass ich im Stehen eingeschlafen bin, hypnotisiert vom Rattern der Räder auf den Gleisen. Plötzlich weckte mich das Pfeifen der Lok. Ich glaubte erst, ich hätte schlecht geträumt. Doch der Alptraum war die Wirklichkeit.

Als der Zug anhielt, hörte ich, wie die Türen der anderen Viehwaggons geöffnet wurden und dachte, meine Qual sei vorbei. Ich glaubte, dass es wohl nicht schlimmer kommen konnte als das, was ich gerade ertragen hatte. Als unsere Tür aufging, flutete Licht herein und ein Häftling in einer gestreiften Uniform und Mütze brüllte uns an: „RAUS, SCHNELL!“ Wir standen alle auf wackeligen Beinen, waren kaum noch am Leben, gerädert und schwach. Nach dieser aufreibenden Reise waren wir niedergeschlagen, verwirrt und sowohl körperlich als auch geistig erschöpft. Das Verhalten der SS-Männer am Bahnsteig täuschte; sie erweckten den trügerischen Eindruck, alles sei in Ordnung; deswegen bewahrte unsere Gruppe die Ruhe. Ihre Uniformen mit den verschiedenen SS-Insignien und dem Totenkopf auf ihren Mützen verliehen ihnen grenzenlose Macht. Das brutale System fand hier erbarmungslosen Rückhalt.

Meine Familie und ich hatten nur eine oder zwei Minuten zusammen am Bahnsteig, und ich war so froh, meine Mutter und meine zwei Brüder zu sehen. Meine kleine Schwester rührte sich nicht, vermutlich, weil meine Mutter sie nicht hatte stillen können. Wir waren von dem Schock der Reise noch ganz benommen, verwirrt von den barschen Befehlen, die gebellt wurden. Meine Mutter, die sich ganz offensichtlich um unser Wohlergehen sorgte, strahlte immer noch Stärke und Hoffnung aus.

Auf einer Seite des Bahnsteigs loderten Flammen und Rauch auf, und ich dachte, es sei eine Art Fabrik. Ich roch brennendes Fleisch. Hinter dem gleißend hell erleuchteten Bahnsteig lag alles in Finsternis. Die Männer in den gestreiften Anzügen teilten uns mit, dass uns unsere Bündel morgen ausgehändigt würden. Gewaltsam und systematisch trennten sie die Männer und Frauen in zwei Reihen. Alle älteren Männer und Kinder wurden in die Reihe der Frauen hinüber geschickt. Die Männer in den gestreiften Anzügen versicherten uns immer wieder, dass wir uns am nächsten Morgen sehen würden. Keiner verabschiedete sich.

Ich stand mit meinem Vater und meinem Onkel in der Reihe der Männer. Mein Großvater, meine Großmutter, meine Mutter (die immer noch das Baby Judit in Armen hielt), meine zwei kleinen Brüder und meine Tante wurden im Marschschritt weg geführt. Alles ging so schnell, dass wir keine Zeit hatten, klare Gedanken zu fassen. Die Kapos sagten uns, dass wir am nächsten Tag wieder vereint würden. Ich hatte keine Gelegenheit, mit meiner Mutter zu sprechen, wir hatten noch nicht einmal Blickkontakt, und ich konnte ihr keine letzten Worte mehr sagen. Später erfuhr ich, dass meine Mutter, Großeltern und Geschwister alle im Krematorium II vergast worden waren.

Mein Vater, Onkel und ich bewegten uns im Gänsemarsch auf einen SS-Offizier zu, der weiße Handschuhe trug. Er sah sich jeden an, bedeutete mit einer Handbewegung, ob man nach rechts oder nach links gehen sollte. Mein Vater ging zuerst, dann mein Onkel, dann war ich an der Reihe. Er sah mich an und schickte mich in die gleiche Gruppe wie meinen Vater und Onkel. Von SS-Soldaten bewacht marschierten wir durch einen Birkenwald, zusammen mit den anderen Männern, die von unserem Transport ausgewählt worden waren. Wir betraten ein Gebäude, das man die „Sauna“ nannte und wo noch weitere dieser Männer in gestreiften Anzügen uns befahlen, jegliche verbleibenden Dokumente oder Schmuck auszuhändigen und uns nackt auszuziehen. Die Kleider nahmen sie uns weg, die Stiefel durften wir behalten.

            Der nächste Abwicklungsschritt in der „Sauna“ bestand darin, dass die Häftlinge in den gestreiften Anzügen uns die Köpfe, die Achselhöhlen und den Schambereich schoren. Auf ihre Jacken waren Stoffstreifen mit Zahlen und Dreiecken aufgenäht. Der Mann, der in dieser Einheit das Sagen hatte, trug einen Ärmelstreifen mit dem Wort Kapo (das hieß Chef). Der Kapo ließ die Älteren in einer Reihe aufstellen und seine Männer sahen nach, ob die Neuankömmlinge goldene Kronen oder Zahnfüllungen hatten. Wer welche hatte, wurde sofort beiseite genommen und ihm wurden auf der Stelle mit einer Zange die Zähne gezogen. Dann mussten wir uns bücken und es wurde nachgesehen, ob wir irgendetwas im After versteckt hatten.

            Als nächstes kamen die Duschen. Ich hatte in meinem Leben noch keine Dusche gesehen und war von der Anlage völlig beeindruckt. Es gab zahlreiche Duschköpfe und große Räder, mit denen der heiße und kalte Wasserfluss geregelt werden konnte. Obwohl ich zu Hause schon einmal in einer Mikwe (einem rituellen Bad) gewesen war, war ich doch davon eingeschüchtert, nackt vor einer großen Gruppe ebenso nackter Fremder zu stehen. Wir mussten während der Dusche unsere Stiefel auf der Seite abstellen, und wir ließen sie nicht aus dem Auge, weil wir maßgefertigte Stiefel hatten, die noch lange halten würden. Plötzlich fingen der Kapo und seine Gehilfen an, unsere Stiefel einzusammeln. Als mein Vater das sah, warnte er uns, und wir schnappten uns unsere Stiefel und hielten sie unter den Armen, während wir duschten. Ohne Stiefel wären wir in noch größerer Lebensgefahr gewesen. Wer seine Stiefel verlor, bekam mit etwas Glück ein paar Holzpantoffeln. Eigentlich waren es keine Pantoffeln, sondern vielmehr ein 5 x 10 cm großes Stück Holz mit einem angeheftetem Stück Leinen. Unsere Stiefel hüteten wir rund um die Uhr wie unseren Augapfel.

Im Duschraum kam die Grausamkeit der SS-Wachmänner erstmals ans Licht. Während wir duschten, stand ein SS-Mann bei einem der großen Räder, die die Wassertemperatur regelten, und er stellte auf siedend heiß, nur zum Spaß. Als wir heraussprangen, um nicht verbrüht zu werden, prügelte uns ein anderer Soldat mit einem Knüppel wieder zurück unter die Dusche. Dann drehte er das eiskalte Wasser auf. Ein junger Mann, der mit uns duschte, hielt seine Brille in den Händen. Sie hatte sehr dicke Gläser, er war offensichtlich sehr kurzsichtig. Der Wasserschwall riss ihm die Brille aus den Händen, und als er sich hinkniete, um sie zu finden, kam ein SS-Wachmann zu ihm hinüber und trat ihm mit seinen schweren Stiefeln in die Schläfe. Der junge Mann rollte auf die Seite, und der Wachmann stampfte weiter auf seine Brust ein. Ich konnte seine Rippen krachen hören. Der Wachmann, nun völlig in Rage, trat und stampfte weiter auf den Mann ein, bis er tot war. Wir anderen duschten weiter, als wäre nichts geschehen, doch ich war erschüttert und entsetzt. Bis heute begreife ich nicht, was diese schreckliche Tat des Wachmanns ausgelöst hat. Vielleicht fand er es lustig, einen nackten Mann auf allen Vieren zu sehen und wollte ihn noch weiter erniedrigen.

Nachdem die Abwicklung in der Sauna fertig war, wurden wir in eine Baracke geführt, immer noch nackt, wo mir die mittlere Pritsche eines dreistöckigen hölzernen Stockbetts ohne Matratze oder Decke zugewiesen wurde. Nach der Tortur, drei Tage und zwei Nächte an derselben Stelle im Viehwagen stehen zu müssen, erschien mir diese Pritsche geradezu ein Luxus. Vor Erschöpfung schlief ich auf der Stelle ein.

Wir erwachten früh am nächsten Morgen und uns wurde befohlen, uns draußen vor der Baracke aufzustellen, wo ich Auschwitz II-Birkenau zum ersten Mal richtig sah. Es war ein heller, sonniger Morgen. Zwei Häftlinge brachten einen Kanister mit heißem Tee heraus, und wir stellten uns an, um Schüsseln (wir nannten sie Shissels) mit einem Schöpflöffel voll Tee zu bekommen. Das war seit drei Tagen mein erster Schluck Flüssigkeit. Mein Vater fragte die Männer, die den Tee ausschenkten: „Wann sehen wir unsere Familien?“ Der Häftling lachte nur und fragte meinen Vater: „Wo kommt ihr denn her?“ Mein Vater antwortete: „Wir sind gestern Nacht aus Ungarn angekommen.“ Der Häftling sagte: „Es ist 1944 und du weißt nicht, was das hier ist? Eure Familien sind durch den Schornstein gegangen.“ Mein Vater befragte ihn weiter, aber ich konnte das Gespräch nicht verstehen. In meiner Naivität fragte ich mich noch, wie ein Mensch denn bitte sehr durch den Schornstein gehen kann. Bald erfuhr ich, dass man so die Massentötungen im Lager beschrieb.

Man tätowierte uns eine Nummer auf. Mein Vater hatte die A9891, ich die A9892 und mein Onkel Jeno die A9893. Wir bekamen eine gestreifte Uniform, bestehend aus Mütze, Jacke und Hose. Wir hatten weder Unterwäsche noch Socken, Toilettenpapier, Zahnbürsten oder sonst irgendetwas, womit man sich hätte pflegen können. Wir hatten keinen Spind, wo man etwas hätte aufbewahren können. Was auch immer wir noch besaßen, trugen wir Tag und Nacht am Körper.

Etwa hundert von uns wurden zur Feldarbeit ausgewählt und man ließ uns die Straße nach Auschwitz I entlangmarschieren. Dort wurden wir einem Kapo namens Heindrich übergeben, einem mörderischen Psychopathen aus einem deutschen Gefängnis. Heindrich stellte sich vor und teilte uns mit, dass wir nun dem Landwirtschaftskommando angehörten. Der Unter-Kapo hieß Stasek und war ein politischer Häftling aus Polen, der Kommandant war Unterscharführer Kuntz, ein Österreicher. Die ersten paar Tage in diesem Kommando mussten wir mit Sicheln Senfpflanzen ernten, bis zu zehn Stunden am Tag. Meine Hände bekamen Blasen, platzten auf und bluteten. Uns wurden auch andere Schwerstarbeiten aufgetragen, sie aufzuzählen, würde zu lange dauern.

Ich überlebte mit 300 Kalorien pro Tag, bestehend aus einer Tasse Tee am Morgen, einen Schöpflöffel voll wässriger Suppe zu Mittag und einer Tasse Ersatzkaffee, einer dünnen Scheibe Brot und einem winzigen Stück Margarine zu Abend. Diese Kost nahm uns alle schwer mit. Wir magerten schnell ab, bekamen Hungerödeme, und wären mein Vater und Onkel nicht bei mir gewesen, hätte ich nicht einmal die erste Woche überstanden. Ich erduldete die ständige Last der schweren Arbeit, die Prügel, die mangelnde Ernährung, und einen Körper, der nicht mehr mitmachte. Während der Schinderei des Tages bekamen wir keine Flüssigkeit. Ich sah, wie junge Männer um die Zwanzig zusammenbrachen. Sie konnten bei dieser Kost nicht überleben und gaben einfach auf. Der Hunger trieb manche in die Verzweiflung – Entmenschlichung durch Aushungern. Eines Tages bei der Suppenausgabe rauften mehrere Häftlinge miteinander, um sich in den Kessel zu stürzen und den letzten Tropfen zu bekommen. Da habe ich für mich entschieden, dass ich mich nie so gehen lassen würde, komme was wolle.

An einem anderen Tag, als wir von der Arbeit zurückkamen, sah ich meinen Vater und Onkel innerhalb des Tors auf mich warten, wie immer. Meine Einheit kam abends immer als Letzte zurück und ich sah sie immer da stehen und auf mich warten. Manchmal gelang es ihnen, bei einem Arbeitseinsatz ein Stück Brot oder eine Kartoffel abzustauben, und sie teilten ihr Glück immer mit mir. Wenn die Arbeitseinheiten von ihrer täglichen Arbeit zurück ins Lager marschierten, prüfte der diensthabende SS-Unteroffizier am Tor die Gefangenen, ob jemand etwas in der Jacke oder Hose hineinschmuggelte. Wenn sich jemand irgendwie verdächtig verhielt, brüllte er dem Häftling einfach zu, er solle die Hände heben und er zog ihm die Jacke hoch. Wenn der Häftling irgendetwas unter die Achseln geklemmt hatte, fiel es heraus. Die SS holte dann den Schmuggler sofort aus der Reihe und vermerkte seine tätowierte Nummer und Baracke. Später dann beim Appell erfolgte die Bestrafung: manchmal waren es Peitschenhiebe, manchmal wurde man einem Strafkommando zugewiesen. Trotz all dieser Strafen gingen die Häftlinge immer das Risiko ein, etwas ins Lager zu schmuggeln, wenn sie etwas fanden. Wir hielten stets Ausschau nach Gegenständen, die unsere Überlebenschancen erhöhen konnten. Wir nannten das „organizuj“ – organisieren.

An jenem Tag arbeitete ihre Einheit in der Nähe einer Baracke, die „Kanada“ hieß (dort wurden die Habseligkeiten der ermordeten Häftlinge aufbewahrt und aussortiert) und ein Mädchen aus unserer Stadt hatte meinen Vater erkannt und ihm ein in Stoff gehülltes Stück Speck zugesteckt. Mein Vater hatte es unter seiner Jacke ins Lager geschmuggelt. Er ließ das Stück Speck unter meine Jacke schlüpfen, während wir dicht beieinander standen. Mein Onkel gab uns mit seinem Körper Deckung, damit niemand die Übergabe mitbekam. Ich war verblüfft, ein Stück Speck in der Hand zu halten. Wir stammten aus einer traditionellen orthodoxen Familie, wir aßen kein Schweinefleisch, und doch sagte mein Vater mir, ich müsse jeden Tag ein bisschen davon essen.

Als Zwangsarbeiter hatten wir keine Spinde, um irgendetwas aufzubewahren, aber ich schlief auf der obersten Pritsche in meiner Baracke und konnte die Decke erreichen. Noch bevor ich den Speck bekam, war es mir gelungen, eine der Deckenbretter zu lockern und so hatte ich ein kleines Geheimfach, wo ich ein paar Kleinigkeiten versteckte, unter anderem ein paar Fetzen Stoff. Da versteckte ich den Speck. In den folgenden Nächten, wenn das Licht aus war und jeder auf seiner Pritsche lag, wartete ich, bis alle eingeschlafen waren. Wenn ich mir ganz sicher war, dass mich keiner sah, öffnete ich das Deckenbrett und holte den Speck hervor, der in den Stoff gehüllt war. Ohne Messer oder Besteck kaute ich ein kleines Stück von dem Speck. Ich konnte förmlich die Energie, die von der Nahrung kam, durch meinen Körper strömen fühlen. Jede Nacht nahm ich einen Bissen, diese kleine Dosis Energie, und ich bin überzeugt davon, dass dieses kleine bisschen Eiweiß mir die Kraft gab, mich dem nächsten Tag zu stellen.

Anfang Juli wurde wieder aussortiert. Diesmal waren mein Vater, mein Onkel und ich in verschiedenen Blöcken. Ich wurde von brüllenden Stimmen aus dem Tiefschlaf geweckt. Sie riefen: „RAUS! SELEKTION!“ Inzwischen wusste ich schon, was Selektion hieß. Ich weiß noch, dass ich mir wünschte, der Erdboden würde mich verschlingen. Man konnte sich nirgendwo verstecken. Wir mussten nackt im Gänsemarsch durch eine Baracke gehen, wo die SS-Ärzte uns untersuchten. Ein Mann genau vor mir wurde aufgehalten, und ich ging weiter durch die Tür. Hätte ich auch nur einen Sekundenbruchteil gezögert, wäre ich ganz bestimmt auf die Liste für die Gaskammer gekommen. Ich machte mir Sorgen, ob mein Vater und Onkel es geschafft hatten. Ich erfuhr es erst am nächsten Morgen, als ich zu ihrer Baracke rannte und sie nicht da waren. Ich wusste, das Schlimmste war eingetreten. Ich musste zum Appell zu meiner Baracke zurückrennen, und den Rest des Tages verzehrte mich die Sorge. Als ich am Abend von der Arbeit zurückkehrte, rannte ich zum Quarantänebereich und rief nach ihnen. Zum Glück kamen sie an den Zaun und wir hatten nur ein paar Sekunden Zeit, um Abschied zu nehmen. Der SS-Wachmann im Turm war nur 30 Meter weit entfernt, und er brüllte mir zu, ich solle verschwinden oder er würde schießen. Mein Vater segnete mich und sagte mir, wenn ich überlebte, müsste ich der Welt erzählen, was hier geschehen ist. Dann sagte er, ich solle mich beeilen und fortgehen, und das was das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich war was am Boden zerstört, nun ganz allein zu sein.

Vor zwanzig Jahren fand der ehrenamtlich im Museumsarchiv Auschwitz tätige Dr. Carson Phillips Unterlagen der Nazis, aus denen hervorgeht, dass mein Vater und Onkel am 9. Juli 1944 für medizinische Experimente ausgewählt wurden. Dieses Dokument ist ihr Testament und Todesurteil zugleich. Ich möchte diese Dokumente in der deutschen Originalfassung sowie in der englischen Übersetzung zusammen mit meiner Aussage als Beweismittel beim Gericht einreichen.

Kurz nachdem mein Vater und Onkel ausselektiert worden waren, bekam ich von einem SS-Wachmann einen lebensgefährlichen Schlag auf den Schädel versetzt. Ich verlor eine Menge Blut und befand mich im Schockzustand. Man warf mich einfach da, wo wir gerade arbeiteten, in einen Graben. Meine Füße trugen mich nicht mehr. Am Ende des Tages lud man mich auf eine Karre mit all den Schaufeln und anderen Werkzeugen. Meine Mitgefangenen brachten mich ins Lagerlazarett in Block 2l.

Ärzte, die Häftlinge waren, operierten mich. Ein paar Tage später legte man mich und andere verletzte Gefangene auf eine Bahre, mit Ziel Gaskammer Birkenau. Dr. Tadusz Orzeszko, ein politischer Häftling aus Polen und Chefchirurg in Block 21, rettete mich von der Bahre und brachte mich zurück ins Lazarett. Er gab mir einen Arztkittel und sagte mir, ich sei nun ein Operationsgehilfe. So wurde ich Zeuge dessen, dass dieses kleine Lagerlazarett Teil der ganzen Täuschung war. Patienten hatten keine Zeit zu genesen; viele von ihnen wurden kurz nach der medizinischen Behandlung auf Laster geladen und zu den Gaskammern in Birkenau gebracht. Die Lasterfahrer kamen einige Stunden später zurück in den Operationssaal, wo sie blutige Lappen aus ihren Hosentaschen zogen. Die Lappen waren voller Zähne mit Goldkronen und Füllungen, die ich dann mit den mir zur Verfügung stehenden Instrumenten entfernen musste. Ich war entsetzt über diese Fledderei, wie sich Leute auf so grausame Weise bereicherten.

Reinhold Hanning leugnet vielleicht seine Rolle in diesen Gräueltaten. Ich erinnere mich zwar nicht an sein Gesicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich von dem Augenblick an, als ich im Mai 1944 in Birkenau aus dem Viehwagen stieg – benommen vor Mangel an Schlaf, Essen und Wasser – Zeuge der Grausamkeit der SS-Wachmänner wurde, die das Lager kontrollierten. Jeder von ihnen war ein Rädchen in einer gut geölten Maschine der Zerstörung. Jeder spielte seine Rolle in der Entmenschlichung der Zwangsarbeiter, jeder trug damit zum Völkermord an den Juden bei.

Zum Abschluss meiner Aussage möchte ich dem Gericht und Reinhold Hanning sagen, dass ich bis zum heutigen Tag mit diesen entsetzlichen Erinnerungen leben muss, mit dem unaussprechlichen Trauma von Auschwitz, mit den Alpträumen über meine Erlebnisse dort. Ein bestimmter Alptraum kehrt immer wieder. Da sehe ich meine Großeltern, meine Mutter, meine drei Geschwister und meine Tante, in eine überfüllte Gaskammer gesperrt, ich sehe das Gas vom Boden zur Decke aufsteigen und sie alle einhüllen. Ich sehe sie ersticken und sterben, während die SS-Offiziere den Todeskampf durch Gucklöcher aus Panzerglas beobachten. Dieses Bild wird mich nie verlassen.