Mein Name ist Tibor Eisen, man nennt mich auch als Max. Ich sage hier heute als Zeuge der Gräueltaten, Schrecken und Entbehrungen aus, die ich in Auschwitz I und Auschwitz II-Birkenau vom Mai 1944 bis zum Januar 1945 erlebt habe. Ich bin am 15. März 1929 in Moldava nad Bodvou in der Tschechoslowakei geboren. Ein Jahr vor dem Krieg wurde das Gebiet, in dem ich lebte, Ungarn angeschlossen. Wie die meisten ungarischen Juden war ich vor der ‚Endlösung‘ der Nazis relativ abgeschirmt, bis zum letzten Kriegsjahr, als die Massendeportation der ungarischen Juden nach Auschwitz begann.
Ich war fünfzehn, als ich im Mai 1944 deportiert wurde – zusammen mit meiner ganzen Kernfamilie und den anderen 450 Juden, die in meiner Heimatstadt lebten. Man brachte uns zu einer Ziegelei in der Stadt Kassa (Košice). Von dort aus wurden wir in Viehwägen geladen. In jeden Wagon wurden ungefähr 100 Menschen gezwängt, und ich musste die gesamte, zwei Nächte und drei Tage lange Fahrt hindurch stehen. Es gab einen Eimer mit Wasser und noch einen zweiten, den wir als Gemeinschaftstoilette benutzten. Das Wasser war fast sofort aufgebraucht und der Eimer wurde nie nachgefüllt. Der andere Eimer schwappte bald über und die Brühe aus Urin und Kot floss über den ganzen Boden des Viehwaggons. Der Gestank, das körperliche Unbehagen, und all seiner Sinne derart beraubt zu sein – das war eine zutiefst entmenschlichende Erfahrung. Zwei Menschen starben in unserem Waggon und wir mussten ertragen, die Reise über ihre Leichen mitten unter uns zu haben. Ich konnte meine Mutter nicht sehen, die meine kleine Schwester Judit noch stillte. Meine beiden jüngeren Brüder konnte ich auch nicht sehen, weil sie zwischen den größeren Menschen verborgen waren. Wir waren voneinander getrennt, konnten nicht miteinander sprechen. Ich weiß noch, dass ich im Stehen eingeschlafen bin, hypnotisiert vom Rattern der Räder auf den Gleisen. Plötzlich weckte mich das Pfeifen der Lok. Ich glaubte erst, ich hätte schlecht geträumt. Doch der Alptraum war die Wirklichkeit.
Als der Zug anhielt, hörte ich, wie die Türen der anderen Viehwaggons geöffnet wurden und dachte, meine Qual sei vorbei. Ich glaubte, dass es wohl nicht schlimmer kommen konnte als das, was ich gerade ertragen hatte. Als unsere Tür aufging, flutete Licht herein und ein Häftling in einer gestreiften Uniform und Mütze brüllte uns an: „RAUS, SCHNELL!“ Wir standen alle auf wackeligen Beinen, waren kaum noch am Leben, gerädert und schwach. Nach dieser aufreibenden Reise waren wir niedergeschlagen, verwirrt und sowohl körperlich als auch geistig erschöpft. Das Verhalten der SS-Männer am Bahnsteig täuschte; sie erweckten den trügerischen Eindruck, alles sei in Ordnung; deswegen bewahrte unsere Gruppe die Ruhe. Ihre Uniformen mit den verschiedenen SS-Insignien und dem Totenkopf auf ihren Mützen verliehen ihnen grenzenlose Macht. Das brutale System fand hier erbarmungslosen Rückhalt.
Meine Familie und ich hatten nur eine oder zwei Minuten zusammen am Bahnsteig, und ich war so froh, meine Mutter und meine zwei Brüder zu sehen. Meine kleine Schwester rührte sich nicht, vermutlich, weil meine Mutter sie nicht hatte stillen können. Wir waren von dem Schock der Reise noch ganz benommen, verwirrt von den barschen Befehlen, die gebellt wurden. Meine Mutter, die sich ganz offensichtlich um unser Wohlergehen sorgte, strahlte immer noch Stärke und Hoffnung aus.
Auf einer Seite des Bahnsteigs loderten Flammen und Rauch auf, und ich dachte, es sei eine Art Fabrik. Ich roch brennendes Fleisch. Hinter dem gleißend hell erleuchteten Bahnsteig lag alles in Finsternis. Die Männer in den gestreiften Anzügen teilten uns mit, dass uns unsere Bündel morgen ausgehändigt würden. Gewaltsam und systematisch trennten sie die Männer und Frauen in zwei Reihen. Alle älteren Männer und Kinder wurden in die Reihe der Frauen hinüber geschickt. Die Männer in den gestreiften Anzügen versicherten uns immer wieder, dass wir uns am nächsten Morgen sehen würden. Keiner verabschiedete sich.
Ich stand mit meinem Vater und meinem Onkel in der Reihe der Männer. Mein Großvater, meine Großmutter, meine Mutter (die immer noch das Baby Judit in Armen hielt), meine zwei kleinen Brüder und meine Tante wurden im Marschschritt weg geführt. Alles ging so schnell, dass wir keine Zeit hatten, klare Gedanken zu fassen. Die Kapos sagten uns, dass wir am nächsten Tag wieder vereint würden. Ich hatte keine Gelegenheit, mit meiner Mutter zu sprechen, wir hatten noch nicht einmal Blickkontakt, und ich konnte ihr keine letzten Worte mehr sagen. Später erfuhr ich, dass meine Mutter, Großeltern und Geschwister alle im Krematorium II vergast worden waren.
Mein Vater, Onkel und ich bewegten uns im Gänsemarsch auf einen SS-Offizier zu, der weiße Handschuhe trug. Er sah sich jeden an, bedeutete mit einer Handbewegung, ob man nach rechts oder nach links gehen sollte. Mein Vater ging zuerst, dann mein Onkel, dann war ich an der Reihe. Er sah mich an und schickte mich in die gleiche Gruppe wie meinen Vater und Onkel. Von SS-Soldaten bewacht marschierten wir durch einen Birkenwald, zusammen mit den anderen Männern, die von unserem Transport ausgewählt worden waren. Wir betraten ein Gebäude, das man die „Sauna“ nannte und wo noch weitere dieser Männer in gestreiften Anzügen uns befahlen, jegliche verbleibenden Dokumente oder Schmuck auszuhändigen und uns nackt auszuziehen. Die Kleider nahmen sie uns weg, die Stiefel durften wir behalten.
Der nächste Abwicklungsschritt in der „Sauna“ bestand darin, dass die Häftlinge in den gestreiften Anzügen uns die Köpfe, die Achselhöhlen und den Schambereich schoren. Auf ihre Jacken waren Stoffstreifen mit Zahlen und Dreiecken aufgenäht. Der Mann, der in dieser Einheit das Sagen hatte, trug einen Ärmelstreifen mit dem Wort Kapo (das hieß Chef). Der Kapo ließ die Älteren in einer Reihe aufstellen und seine Männer sahen nach, ob die Neuankömmlinge goldene Kronen oder Zahnfüllungen hatten. Wer welche hatte, wurde sofort beiseite genommen und ihm wurden auf der Stelle mit einer Zange die Zähne gezogen. Dann mussten wir uns bücken und es wurde nachgesehen, ob wir irgendetwas im After versteckt hatten.
Als nächstes kamen die Duschen. Ich hatte in meinem Leben noch keine Dusche gesehen und war von der Anlage völlig beeindruckt. Es gab zahlreiche Duschköpfe und große Räder, mit denen der heiße und kalte Wasserfluss geregelt werden konnte. Obwohl ich zu Hause schon einmal in einer Mikwe (einem rituellen Bad) gewesen war, war ich doch davon eingeschüchtert, nackt vor einer großen Gruppe ebenso nackter Fremder zu stehen. Wir mussten während der Dusche unsere Stiefel auf der Seite abstellen, und wir ließen sie nicht aus dem Auge, weil wir maßgefertigte Stiefel hatten, die noch lange halten würden. Plötzlich fingen der Kapo und seine Gehilfen an, unsere Stiefel einzusammeln. Als mein Vater das sah, warnte er uns, und wir schnappten uns unsere Stiefel und hielten sie unter den Armen, während wir duschten. Ohne Stiefel wären wir in noch größerer Lebensgefahr gewesen. Wer seine Stiefel verlor, bekam mit etwas Glück ein paar Holzpantoffeln. Eigentlich waren es keine Pantoffeln, sondern vielmehr ein 5 x 10 cm großes Stück Holz mit einem angeheftetem Stück Leinen. Unsere Stiefel hüteten wir rund um die Uhr wie unseren Augapfel.
Im Duschraum kam die Grausamkeit der SS-Wachmänner erstmals ans Licht. Während wir duschten, stand ein SS-Mann bei einem der großen Räder, die die Wassertemperatur regelten, und er stellte auf siedend heiß, nur zum Spaß. Als wir heraussprangen, um nicht verbrüht zu werden, prügelte uns ein anderer Soldat mit einem Knüppel wieder zurück unter die Dusche. Dann drehte er das eiskalte Wasser auf. Ein junger Mann, der mit uns duschte, hielt seine Brille in den Händen. Sie hatte sehr dicke Gläser, er war offensichtlich sehr kurzsichtig. Der Wasserschwall riss ihm die Brille aus den Händen, und als er sich hinkniete, um sie zu finden, kam ein SS-Wachmann zu ihm hinüber und trat ihm mit seinen schweren Stiefeln in die Schläfe. Der junge Mann rollte auf die Seite, und der Wachmann stampfte weiter auf seine Brust ein. Ich konnte seine Rippen krachen hören. Der Wachmann, nun völlig in Rage, trat und stampfte weiter auf den Mann ein, bis er tot war. Wir anderen duschten weiter, als wäre nichts geschehen, doch ich war erschüttert und entsetzt. Bis heute begreife ich nicht, was diese schreckliche Tat des Wachmanns ausgelöst hat. Vielleicht fand er es lustig, einen nackten Mann auf allen Vieren zu sehen und wollte ihn noch weiter erniedrigen.
Nachdem die Abwicklung in der Sauna fertig war, wurden wir in eine Baracke geführt, immer noch nackt, wo mir die mittlere Pritsche eines dreistöckigen hölzernen Stockbetts ohne Matratze oder Decke zugewiesen wurde. Nach der Tortur, drei Tage und zwei Nächte an derselben Stelle im Viehwagen stehen zu müssen, erschien mir diese Pritsche geradezu ein Luxus. Vor Erschöpfung schlief ich auf der Stelle ein.
Wir erwachten früh am nächsten Morgen und uns wurde befohlen, uns draußen vor der Baracke aufzustellen, wo ich Auschwitz II-Birkenau zum ersten Mal richtig sah. Es war ein heller, sonniger Morgen. Zwei Häftlinge brachten einen Kanister mit heißem Tee heraus, und wir stellten uns an, um Schüsseln (wir nannten sie Shissels) mit einem Schöpflöffel voll Tee zu bekommen. Das war seit drei Tagen mein erster Schluck Flüssigkeit. Mein Vater fragte die Männer, die den Tee ausschenkten: „Wann sehen wir unsere Familien?“ Der Häftling lachte nur und fragte meinen Vater: „Wo kommt ihr denn her?“ Mein Vater antwortete: „Wir sind gestern Nacht aus Ungarn angekommen.“ Der Häftling sagte: „Es ist 1944 und du weißt nicht, was das hier ist? Eure Familien sind durch den Schornstein gegangen.“ Mein Vater befragte ihn weiter, aber ich konnte das Gespräch nicht verstehen. In meiner Naivität fragte ich mich noch, wie ein Mensch denn bitte sehr durch den Schornstein gehen kann. Bald erfuhr ich, dass man so die Massentötungen im Lager beschrieb.
Man tätowierte uns eine Nummer auf. Mein Vater hatte die A9891, ich die A9892 und mein Onkel Jeno die A9893. Wir bekamen eine gestreifte Uniform, bestehend aus Mütze, Jacke und Hose. Wir hatten weder Unterwäsche noch Socken, Toilettenpapier, Zahnbürsten oder sonst irgendetwas, womit man sich hätte pflegen können. Wir hatten keinen Spind, wo man etwas hätte aufbewahren können. Was auch immer wir noch besaßen, trugen wir Tag und Nacht am Körper.
Etwa hundert von uns wurden zur Feldarbeit ausgewählt und man ließ uns die Straße nach Auschwitz I entlangmarschieren. Dort wurden wir einem Kapo namens Heindrich übergeben, einem mörderischen Psychopathen aus einem deutschen Gefängnis. Heindrich stellte sich vor und teilte uns mit, dass wir nun dem Landwirtschaftskommando angehörten. Der Unter-Kapo hieß Stasek und war ein politischer Häftling aus Polen, der Kommandant war Unterscharführer Kuntz, ein Österreicher. Die ersten paar Tage in diesem Kommando mussten wir mit Sicheln Senfpflanzen ernten, bis zu zehn Stunden am Tag. Meine Hände bekamen Blasen, platzten auf und bluteten. Uns wurden auch andere Schwerstarbeiten aufgetragen, sie aufzuzählen, würde zu lange dauern.
Ich überlebte mit 300 Kalorien pro Tag, bestehend aus einer Tasse Tee am Morgen, einen Schöpflöffel voll wässriger Suppe zu Mittag und einer Tasse Ersatzkaffee, einer dünnen Scheibe Brot und einem winzigen Stück Margarine zu Abend. Diese Kost nahm uns alle schwer mit. Wir magerten schnell ab, bekamen Hungerödeme, und wären mein Vater und Onkel nicht bei mir gewesen, hätte ich nicht einmal die erste Woche überstanden. Ich erduldete die ständige Last der schweren Arbeit, die Prügel, die mangelnde Ernährung, und einen Körper, der nicht mehr mitmachte. Während der Schinderei des Tages bekamen wir keine Flüssigkeit. Ich sah, wie junge Männer um die Zwanzig zusammenbrachen. Sie konnten bei dieser Kost nicht überleben und gaben einfach auf. Der Hunger trieb manche in die Verzweiflung – Entmenschlichung durch Aushungern. Eines Tages bei der Suppenausgabe rauften mehrere Häftlinge miteinander, um sich in den Kessel zu stürzen und den letzten Tropfen zu bekommen. Da habe ich für mich entschieden, dass ich mich nie so gehen lassen würde, komme was wolle.
An einem anderen Tag, als wir von der Arbeit zurückkamen, sah ich meinen Vater und Onkel innerhalb des Tors auf mich warten, wie immer. Meine Einheit kam abends immer als Letzte zurück und ich sah sie immer da stehen und auf mich warten. Manchmal gelang es ihnen, bei einem Arbeitseinsatz ein Stück Brot oder eine Kartoffel abzustauben, und sie teilten ihr Glück immer mit mir. Wenn die Arbeitseinheiten von ihrer täglichen Arbeit zurück ins Lager marschierten, prüfte der diensthabende SS-Unteroffizier am Tor die Gefangenen, ob jemand etwas in der Jacke oder Hose hineinschmuggelte. Wenn sich jemand irgendwie verdächtig verhielt, brüllte er dem Häftling einfach zu, er solle die Hände heben und er zog ihm die Jacke hoch. Wenn der Häftling irgendetwas unter die Achseln geklemmt hatte, fiel es heraus. Die SS holte dann den Schmuggler sofort aus der Reihe und vermerkte seine tätowierte Nummer und Baracke. Später dann beim Appell erfolgte die Bestrafung: manchmal waren es Peitschenhiebe, manchmal wurde man einem Strafkommando zugewiesen. Trotz all dieser Strafen gingen die Häftlinge immer das Risiko ein, etwas ins Lager zu schmuggeln, wenn sie etwas fanden. Wir hielten stets Ausschau nach Gegenständen, die unsere Überlebenschancen erhöhen konnten. Wir nannten das „organizuj“ – organisieren.
An jenem Tag arbeitete ihre Einheit in der Nähe einer Baracke, die „Kanada“ hieß (dort wurden die Habseligkeiten der ermordeten Häftlinge aufbewahrt und aussortiert) und ein Mädchen aus unserer Stadt hatte meinen Vater erkannt und ihm ein in Stoff gehülltes Stück Speck zugesteckt. Mein Vater hatte es unter seiner Jacke ins Lager geschmuggelt. Er ließ das Stück Speck unter meine Jacke schlüpfen, während wir dicht beieinander standen. Mein Onkel gab uns mit seinem Körper Deckung, damit niemand die Übergabe mitbekam. Ich war verblüfft, ein Stück Speck in der Hand zu halten. Wir stammten aus einer traditionellen orthodoxen Familie, wir aßen kein Schweinefleisch, und doch sagte mein Vater mir, ich müsse jeden Tag ein bisschen davon essen.
Als Zwangsarbeiter hatten wir keine Spinde, um irgendetwas aufzubewahren, aber ich schlief auf der obersten Pritsche in meiner Baracke und konnte die Decke erreichen. Noch bevor ich den Speck bekam, war es mir gelungen, eine der Deckenbretter zu lockern und so hatte ich ein kleines Geheimfach, wo ich ein paar Kleinigkeiten versteckte, unter anderem ein paar Fetzen Stoff. Da versteckte ich den Speck. In den folgenden Nächten, wenn das Licht aus war und jeder auf seiner Pritsche lag, wartete ich, bis alle eingeschlafen waren. Wenn ich mir ganz sicher war, dass mich keiner sah, öffnete ich das Deckenbrett und holte den Speck hervor, der in den Stoff gehüllt war. Ohne Messer oder Besteck kaute ich ein kleines Stück von dem Speck. Ich konnte förmlich die Energie, die von der Nahrung kam, durch meinen Körper strömen fühlen. Jede Nacht nahm ich einen Bissen, diese kleine Dosis Energie, und ich bin überzeugt davon, dass dieses kleine bisschen Eiweiß mir die Kraft gab, mich dem nächsten Tag zu stellen.
Anfang Juli wurde wieder aussortiert. Diesmal waren mein Vater, mein Onkel und ich in verschiedenen Blöcken. Ich wurde von brüllenden Stimmen aus dem Tiefschlaf geweckt. Sie riefen: „RAUS! SELEKTION!“ Inzwischen wusste ich schon, was Selektion hieß. Ich weiß noch, dass ich mir wünschte, der Erdboden würde mich verschlingen. Man konnte sich nirgendwo verstecken. Wir mussten nackt im Gänsemarsch durch eine Baracke gehen, wo die SS-Ärzte uns untersuchten. Ein Mann genau vor mir wurde aufgehalten, und ich ging weiter durch die Tür. Hätte ich auch nur einen Sekundenbruchteil gezögert, wäre ich ganz bestimmt auf die Liste für die Gaskammer gekommen. Ich machte mir Sorgen, ob mein Vater und Onkel es geschafft hatten. Ich erfuhr es erst am nächsten Morgen, als ich zu ihrer Baracke rannte und sie nicht da waren. Ich wusste, das Schlimmste war eingetreten. Ich musste zum Appell zu meiner Baracke zurückrennen, und den Rest des Tages verzehrte mich die Sorge. Als ich am Abend von der Arbeit zurückkehrte, rannte ich zum Quarantänebereich und rief nach ihnen. Zum Glück kamen sie an den Zaun und wir hatten nur ein paar Sekunden Zeit, um Abschied zu nehmen. Der SS-Wachmann im Turm war nur 30 Meter weit entfernt, und er brüllte mir zu, ich solle verschwinden oder er würde schießen. Mein Vater segnete mich und sagte mir, wenn ich überlebte, müsste ich der Welt erzählen, was hier geschehen ist. Dann sagte er, ich solle mich beeilen und fortgehen, und das was das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich war was am Boden zerstört, nun ganz allein zu sein.
Vor zwanzig Jahren fand der ehrenamtlich im Museumsarchiv Auschwitz tätige Dr. Carson Phillips Unterlagen der Nazis, aus denen hervorgeht, dass mein Vater und Onkel am 9. Juli 1944 für medizinische Experimente ausgewählt wurden. Dieses Dokument ist ihr Testament und Todesurteil zugleich. Ich möchte diese Dokumente in der deutschen Originalfassung sowie in der englischen Übersetzung zusammen mit meiner Aussage als Beweismittel beim Gericht einreichen.
Kurz nachdem mein Vater und Onkel ausselektiert worden waren, bekam ich von einem SS-Wachmann einen lebensgefährlichen Schlag auf den Schädel versetzt. Ich verlor eine Menge Blut und befand mich im Schockzustand. Man warf mich einfach da, wo wir gerade arbeiteten, in einen Graben. Meine Füße trugen mich nicht mehr. Am Ende des Tages lud man mich auf eine Karre mit all den Schaufeln und anderen Werkzeugen. Meine Mitgefangenen brachten mich ins Lagerlazarett in Block 2l.
Ärzte, die Häftlinge waren, operierten mich. Ein paar Tage später legte man mich und andere verletzte Gefangene auf eine Bahre, mit Ziel Gaskammer Birkenau. Dr. Tadusz Orzeszko, ein politischer Häftling aus Polen und Chefchirurg in Block 21, rettete mich von der Bahre und brachte mich zurück ins Lazarett. Er gab mir einen Arztkittel und sagte mir, ich sei nun ein Operationsgehilfe. So wurde ich Zeuge dessen, dass dieses kleine Lagerlazarett Teil der ganzen Täuschung war. Patienten hatten keine Zeit zu genesen; viele von ihnen wurden kurz nach der medizinischen Behandlung auf Laster geladen und zu den Gaskammern in Birkenau gebracht. Die Lasterfahrer kamen einige Stunden später zurück in den Operationssaal, wo sie blutige Lappen aus ihren Hosentaschen zogen. Die Lappen waren voller Zähne mit Goldkronen und Füllungen, die ich dann mit den mir zur Verfügung stehenden Instrumenten entfernen musste. Ich war entsetzt über diese Fledderei, wie sich Leute auf so grausame Weise bereicherten.
Reinhold Hanning leugnet vielleicht seine Rolle in diesen Gräueltaten. Ich erinnere mich zwar nicht an sein Gesicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass ich von dem Augenblick an, als ich im Mai 1944 in Birkenau aus dem Viehwagen stieg – benommen vor Mangel an Schlaf, Essen und Wasser – Zeuge der Grausamkeit der SS-Wachmänner wurde, die das Lager kontrollierten. Jeder von ihnen war ein Rädchen in einer gut geölten Maschine der Zerstörung. Jeder spielte seine Rolle in der Entmenschlichung der Zwangsarbeiter, jeder trug damit zum Völkermord an den Juden bei.
Zum Abschluss meiner Aussage möchte ich dem Gericht und Reinhold Hanning sagen, dass ich bis zum heutigen Tag mit diesen entsetzlichen Erinnerungen leben muss, mit dem unaussprechlichen Trauma von Auschwitz, mit den Alpträumen über meine Erlebnisse dort. Ein bestimmter Alptraum kehrt immer wieder. Da sehe ich meine Großeltern, meine Mutter, meine drei Geschwister und meine Tante, in eine überfüllte Gaskammer gesperrt, ich sehe das Gas vom Boden zur Decke aufsteigen und sie alle einhüllen. Ich sehe sie ersticken und sterben, während die SS-Offiziere den Todeskampf durch Gucklöcher aus Panzerglas beobachten. Dieses Bild wird mich nie verlassen.