ZEUGENAUSSAGE IM PROZESS GEGEN REINHOLD HANNING: HEDY BOHM, 06.04.2016

Mein Name ist Hedy Bohm. Ich wurde am 11. Mai 1928 im rumänischen Oradea geboren. Ich war das einzige Kind meiner Eltern Elisabeth und Ignac Klein. Mein Vater war Zimmermeister. Als Einzelkind wurde ich übermäßig behütet und vor der harschen Wirklichkeit beschützt.

Mein Vater war ein sanftmütiger, stiller Mann. Kein einziges Mal habe ich ihn laut werden hören. Meine Mutter verwaltete als Hausfrau ruhig unseren Alltag. Den Gerüchten über die Gräueltaten an den Juden, als Hitlers Armee ein Land nach dem anderen eroberte, schenkten meine Eltern keinen Glauben. Sie waren davon überzeugt, dass die ungarische Regierung sie nicht im Stich lassen würde. Als uns also befohlen wurde, ins Ghetto zu ziehen, leisteten wir friedlich Folge. Wir mussten alles in unserer Wohnung zurücklassen und durften nur einen kleinen Koffer mitnehmen, keine Wertsachen, nur das Allernötigste. Ich war gerade sechzehn geworden.

Die Transporte fuhren jeden Tag ab, die ungarischen Soldaten holten die Leute aus den Gebäuden und führten sie im Marschschritt zu den Viehwägen, die zu unserem Abtransport bereitstanden. Wir waren etwa einen Monat im Ghetto, ehe sie uns gegen Ende Mai 1944 abholten. Wir wurden geschubst und gestoßen. In jeden Viehwagen kamen etwa 80 bis 90 Leute. Man konnte nur stehen, wie Sardinen in einer Dose. Man gab uns einen Kübel Wasser und einen leeren Eimer. Die Türen wurden von außen verriegelt und wir fuhren los. Ein winziges Fenster mit Stacheldraht war unsere einzige Frischluftzufuhr. Wir standen dicht gedrängt, die Luft wurde unerträglich. Es gab nichts zu Essen oder zu Trinken. Die Kinder und Babys weinten. Es stank, wir hatten Hunger und Durst, die Kranken stöhnten. Fäkalien schwappten aus den Eimern über. Der Zug fuhr drei Tage und drei Nächte lang, blieb manchmal stehen, fuhr dann weiter. Wir wussten nicht, wohin es ging. Wir glaubten immer noch, wir würden zu einem Arbeitseinsatz gebracht. Ich erinnere mich daran, wie ich meiner Mama zufächelte, weil sie keine Luft bekam.

Nach den drei Tagen im Viehwagen blieb der Zug endlich stehen. Wir waren angekommen, aber wo? Die Türen wurden geöffnet, und es brach sofort Chaos aus. Unter Gebrüll stiegen wir aus: „RAUS! RAUS! SCHNELL!“

Der Anblick, der sich mir bot, war fremdartig und unbegreiflich. Unmittelbar vor mir kamen Menschen aus den Waggons geflutet, hauptsächlich Frauen, die Kinder an den Händen oder Säuglinge in den Armen hielten, Ältere, die sich gegenseitig aus dem Waggon halfen. Und über all das wachten die schwarz uniformierten deutschen Wachmänner, die ihre Gewehre auf uns gerichtet hielten. Andere hielten große, knurrende Hunde an kurzen Leinen. Die Wachen und andere Männer in schwarz-weiß gestreiften Uniformen brüllten uns an, wir sollten uns beeilen. Jenseits der wogenden Masse verängstigter Menschen erstreckte sich eine hohe Einzäunung, soweit das Auge reichte. Die schiere Größe und das Ausmaß der Anlage überstieg alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Darüber lag jedoch der Schatten des Horrors, der hier vor sich ging. Scheunenartige Baracken standen in Reihen. Allerorts wurde geschrien und gebrüllt, hastig wurde ein Befehl nach dem anderen erteilt.

Die erste Anordnung war, dass die Männer nach links gehen sollten. Noch ehe ich mich verabschieden konnte, war mein sanftmütiger, gütiger Vater verschwunden. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Den Frauen wurde befohlen, auf der Straße vor uns weiter zu gehen. Ich sah meine Mutter vor mir und rannte ihr nach. Ein quer vor meine Brust gehaltenes Gewehr hielt mich auf. Der SS-Mann rief „Nein!“, deutete nach rechts, „Da lang!“ Ich flehte ihn an, mich meiner Mama folgen zu lassen, die schon recht weit vorangegangen war, doch er versperrte mir weiterhin den Weg. Er wiederholte: „Nach rechts!“ Ich schrie nach meiner Mama. Sie hörte mich, drehte sich um und sah mich an. Die Zeit blieb stehen. Ich weiß nicht, ob es nur ein Augenblick oder eine Minute war. Ich sah sie an. Ihr Blick traf meinen. Dann drehte sie sich wortlos um und ging weiter. Ich war entgeistert und fassungslos. Es war mir unbegreiflich. Ich war völlig allein unter Fremden, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich stand unter Schock. So sehr ich mich auch danach sehnte, meine Mutter wieder zu sehen, es war mir nicht vergönnt.

Man befahl uns, in Fünferreihen Aufstellung zu nehmen und weiter durch das offene Tor zu gehen. Wir erfuhren später, dass man diesen Abschnitt des Lagers als Lager C bezeichnete. Als wir die erste Baracke zu unserer Rechten betraten, befahl man uns, uns zum Duschen und Desinfizieren auszuziehen. Unsere Kleider und Schuhe mussten wir in einem Bündel ablegen und man sagte uns, dass wir nachher wiederbekommen würden. Wir betraten einen grauen, leeren Betonraum mit Duschköpfen über uns in der Decke. Nach der Dusche schickte man uns in das nächste Zimmer weiter. Nackt, triefnass, uns notdürftig mit den Händen bedeckend, gingen wir in ein großes Zimmer, in dem Männer und Frauen unsere Köpfe und Körper vollständig kahlschoren. Dann stäubten sie uns ein gelbes Pulver auf den Unterleib. Danach mussten wir an einem langen Tisch entlanggehen, auf dem sich Kleider türmten. Jede von uns bekam eines zugeworfen. Egal, ob es zu groß oder zu klein war, wir behielten es für unsere restliche Zeit hier. Ich bekam Schuhe mit Holzsohlen. Keine Strumpfhose, keine Unterhose, kein Büstenhalter, keine Socken, nur das Kleid und Schuhe.

Als nächstes schickten sie uns hinaus und wir suchten uns einen Platz in einer der großen Baracken, die man Blöcke nannte. Ungefähr dreißig davon waren im Lager C entlang der Stacheldrahtzäune aufgereiht, dazwischen ein breiter Pfad. In jedem Block waren mehrere hundert Frauen untergebracht. Ich ging mit einer kleinen Gruppe die breite Gasse entlang. Die Türen, groß wie Scheunentore, standen offen. Als wir daran vorbeigingen, sah ich, dass in manchen Baracken hölzerne Stockbetten standen. In anderen war nichts als derselbe gestampfte Erdboden, auf dem wir draußen gingen.

Inmitten von all dem stand ein hoher Wachturm mit bewaffneten SS-Männern, die die Anlage ständig überwachten. Man sagte uns, dass wir uns dem Zaun ringsum nicht nähern durften, sonst würde der Wachmann auf uns schießen. Manche begingen Selbstmord, indem sie auf den elektrischen Zaun zu rannten und sich daran klammerten. Wir waren uns bewusst, dass wir unter ständiger Beobachtung standen.

Während wir an mehreren Gebäuden vorbeigingen, bemerkte ich in einem davon auf der linken Seite ein Fenster. Der Sonnenschein verwandelte die Scheibe in einen Spiegel. Ich blieb stehen und sah mich an, wie Dutzende andere auch. Ich blickte in den Spiegel auf die fremden Gesichter, die mich anblickten, und konnte mich selbst nicht darunter erkennen. Ich war die dritte von links. Ich zählte die Gesichter im Spiegel ab und starrte das seltsam aussehende kahle Mädchen eine Zeitlang an, bis ich mich damit abfinden konnte, dass ich das war.

Ich ging fast bis zum Ende des Lagers und fand in einer der Baracken einen winzigen, scheinbar noch unbesetzten Platz auf einer hölzernen Plattform. Ich fragte, ob der Platz belegt war, und man sagte mir, er sei frei. Dort ließ ich mich nieder.

Bald wurde mir klar, warum er noch frei gewesen war. Die Holzbretter reichten nur bis zur Hälfte der Pritsche, so dass ich mich nicht ausstrecken konnte. Ich verbrachte mehrere unbequeme Nächte zusammengerollt, oder mit den Füßen auf dem Rahmenbalken, dann gab ich auf und suchte mir einen Platz in einem anderen Block ohne Betten, wo man einfach auf dem bloßen gestampften Erdboden schlief.

Eine Baracke im Lager C diente uns als Waschraum. Dort gab es eine hölzerne Sitzbank mit Löchern und mehrere große Betonbecken, wo man sich mit kaltem Wasser waschen konnte.

Tage und Wochen vergingen. Wenn es regnete, leckte das Dach an mehreren Stellen und an meinem Schlafplatz bildeten sich Pfützen. Ich ging hinter und hockte mich auf den Rand des Betonwaschbeckens, um trocken zu bleiben, denn alle anderen trockenen Stellen waren schon dicht belegt. Später fand ich beim Gang durch das Lager eine Lösung für mein Problem: drei kleine Stücke Holz, die vom Bau des Lagers übriggeblieben waren. Sie waren etwa zwei bis drei Zentimeter lang und breit und einen Zentimeter dick. Das nächste Mal, als es regnete, legte ich ein Stück unter mein Knie, eines unter die Hüfte und das dritte unter meine Schulter. Das hob mich gerade genug über die Pfütze, und so schlief ich dann.

Ich redete mir ein, dass meine Mutter sich wohl an einem ähnlichen Ort befand, und dass sie überleben würde, weil sie klug und stark war. Ich redete mir ein, dass wir uns nach dem Krieg wiedersehen würden. Bis dahin musste ich alles in meiner Kraft Stehende tun, gesund, sauber und guten Mutes zu bleiben. Ich musste mich um mich selbst kümmern, so gut es unter den Umständen möglich war.

 Ich begriff den Ort nicht, an dem ich mich befand, ich wusste nicht, wo ich war und was der Zweck des Ganzen war. Ich wusste nicht, dass die Straße, die meine Mutter entlanggegangen war, sie zur Tötung ins Krematorium geführt hatte, zusammen mit all den Kindern, den jungen Müttern mit Säuglingen in den Armen und den Großmüttern, die die Nazisoldaten vor meinen Augen weggeführt hatten. Ich hatte keine Ahnung, und deswegen hielt ich weiter durch und hoffte und glaubte, dass das alles eines Tages vorbei sein würde und ich wieder zu meiner Mama käme. Dass mein behinderter Vater keine Chance hatte, hatte ich schon begriffen, doch ich sagte mir immer wieder, dass meine Mutter überleben würde, dass wir wieder zusammen sein würden. Die ganzen Monate im Lager C und später in Deutschland hoffte ich weiter und blieb unwissend.

Jeden Morgen, wenn es noch dunkel war, ging ich in die Waschbaracke und zog mein Kleid und meine Schuhe aus. Ich wusch mich von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser und trocknete mich mit den Händen ab. Ich zog mein Kleid wieder an und legte mich bis zum Morgenappell wieder hin. Eines Nachts weckten mich ungewöhnliche Geräusche, ein Stöhnen, Weinen und Flüstern. Am nächsten Morgen sagte man mir, dass eine Frau ein Kind zur Welt gebracht hatte. Einige andere Frauen hatten ihr geholfen und das Baby danach fortgeschafft, um der Mutter das Leben zu retten. Ich begriff damals nicht, was vor sich ging.

Unser Leben im Lager C begann jeden Morgen mit dem Appell. Wir stellten uns in Fünferreihen vor den Baracken auf. Die SS-Wachmänner nannten uns die „Häftlinge“. Man befahl uns, uns aufrecht hinzustellen und uns weder zu rühren noch zu sprechen. So standen wir stundenlang da, bis die Zählung abgeschlossen war. SS-Wachen sorgten mit Peitschen dafür, dass wir diese Regeln einhielten. Manchmal, wenn die Zahlen nicht stimmten, wurde der Prozess wiederholt. Das war aufreibend. Manchmal wurde mir der ganze Körper taub. Wenn dieser Prozess vorüber war, hatten wir ein paar Stunden, bis am Nachmittag alles wieder von vorne begann.

Der Hunger war mein ständiger Begleiter. Jeder Block bekam einen Kübel, aus dem dann in Schüsseln oder kleine Töpfe geschöpft wurde. Die erste Person in der Fünferreihe nahm ein paar Schlucke und gab die Schüssel dann weiter, bis alles ausgetrunken war.

Am ersten Tag nach unserer dreitägigen Reise im Viehwagen ohne Essen oder Trinken hatte ich großen Hunger. Gierig beobachtete ich, wie das erste Mädchen in der Schlange von der Schüssel nippte. Sie brach in Tränen aus und trank nicht weiter, sondern gab die Schüssel der nächsten Person. Als ich an der Reihe war und davon trank, begriff ich warum. So eine Suppe hatte ich noch nie gekostet. Es war eine braune Brühe mit fast nichts darin. Kein Fleisch, keine Kartoffeln, keine Karotten, kein Gemüse oder sonst irgendetwas, das Nahrung ähnelte. Es schwammen kleine Ästchen darin herum, Kieselsteinchen und Sand. Es schmeckte abscheulich. Ich stellte mir vor, was meine Mutter sagen würde: „Trink, was auch immer an Nahrung da drin ist, wir dir helfen, zu überleben.“ Also würgte ich die furchtbare Brühe hinunter, während mir die Tränen hinunterrannen. Dies und ein Brocken dunklen Brotes mit einem winzigen bisschen Marmelade oder Käse war unsere tägliche Ration für die nächsten drei Monate. Wir waren am Verhungern. Manche von uns waren nicht in der Lage, die sogenannte ‚Suppe‘ zu trinken. Die wurden als erste krank und bekamen Durchfall, was sie so schwächte, dass sie bald nicht mehr laufen konnten. Sie gingen als erste zugrunde.

Eines Tages, als ich zwischen den Apellen herumlief, traf ich eine meiner liebsten Klassenkameradinnen, Mazso. Sie war ein talentiertes, süßes Mädchen, die in der Klasse hinter mir gesessen war. Zwei Jahre zuvor hatte ich sie in mein Poesiealbum schreiben lassen. Zusammen mit einer reizenden Tintenzeichnung hatte sie mir gute Wünsche hineingeschrieben. Sie sagte: „Hedy, ich muss dich um einen Gefallen bitten.“ Verwirrt sah ich sie an und fragte: „Was in aller Welt könnte ich denn tun?“

Sie sagte: „Erinnerst du dich an meinen Freund?“ Ich antwortete: „Ja, warum?“ Sie entgegnete: „Wenn du nach dem Krieg heimkommst, such ihn bitte und sag ihm, dass ich ihn sehr geliebt habe.“

Ich fragte: „Warum sagst du mir das? Du kannst es ihm doch selbst sagen, wenn du heimkommst.“

Sie blickte mich nur mit einem sanften Lächeln an und sagte: „Ich weiß, dass ich nicht mehr heimkomme. Ich werde es nicht schaffen, aber du schon.“ Und sie hatte recht.

Kurz darauf wurde ich selektiert und zur Arbeit in einer Fabrik aus dem Lager gebracht. Ich sah sie nie wieder. Die Selektionen durch SS-Offiziere und SS-Wachmänner fanden täglich statt. Hunderte Menschen wurden fortgebracht und nie wiedergesehen. Wir wussten nicht, was mit ihnen geschehen würde. Wir fragten uns, ob es besser war zu gehen oder zu bleiben. Konnte es noch schlimmer werden, oder wurde es vielleicht besser?

Die Monate vergingen mit endlosen Appellen, Selektionen und dem Hunger. Unser gedrängtes, unsicheres Dasein ging weiter. Eines Tages ging ich meine Tante Margit und ihre beiden Töchter Kato und Eva besuchen. Kaum war ich angekommen, ertönten Pfiffe für einen sofortigen Zählappell. Ich hatte keine Zeit, zu meinem Block zurückzugehen, also stellte ich mich dort auf. An diesem Tag wurde ich zusammen mit meinen Verwandten und ein paar Tausend anderen selektiert. Wir wurden sofort im Marschschritt aus dem Lager C geführt, um desinfiziert, geduscht, angekleidet und zum Abtransport bereitgemacht zu werden. Wir warteten eine lange Zeit und dann befahl man uns, wieder in Richtung Lager C zurückzugehen. Stattdessen aber wurde ein Tor gegenüber unserem geöffnet und wir marschierten in einen leeren Block. Man befahl uns, unsere Kleider auszuziehen und zurückzugeben, dann wurden wir ohne eine Erklärung und nackt, wie wir waren, eingesperrt. Verängstigt drängten wir uns einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang aneinander. Dann ließ man uns hinaus, wir bekamen unsere Kleider und wurden zum Bahnhof geführt. Dort befahl man uns, in die wartenden Viehwägen einzusteigen.

Das war gegen Ende August 1944. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es dauerte, bis wir unser Ziel erreichten, ich schätze ungefähr zwei Tage. Bei einem unserer Halte trennten sie den Zug und ließen etwa 500 Leute zurück, wir fuhren weiter. Wir hatten keine Ahnung, was den anderen bevorstand. Als der Zug anhielt, mussten wir uns in Fünferreihen aufstellen und zu unserem Ziel marschieren. Wir liefen zu einer Munitionsfabrik in der Nähe von Fallersleben, was heute zu Wolfsburg gehört.

Gegenüber der Fabrik war ein ausgebombtes Gebäude, dessen Keller noch intakt war. Das war unser Quartier und Zuhause für den Rest des Krieges. Wir waren Zwangsarbeiter. Am 14. April 1945 wurde ich von der amerikanischen Armee befreit. Ich war eine der wenigen, die Glück hatten.

Ich habe überlebt.

Hedy Bohm

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